1. (Aus-)Bildung
und Beruf
Der
Schulbesuch mit anschließendem Besuch allgemeinbildender und
berufsbildender Ausbildungsstätten ist zum beherrschenden Strukturmerkmal
des Jugendalters geworden und verzögert gleichzeitig durch seine stetige
Ausdehnung den Eintritt ins Berufsleben. Dies spiegelt sich auch in den
Ergebnissen unserer Studie wider, denn über 70% der Jugendlichen waren zum
Zeitpunkt der Befragung noch in der Ausbildung. Hochgerechnet und etwas
allgemeiner betrachtet bedeutet dies, daß heute die Hälfte der
Jugendgeneration schon etwa ein Viertel ihrer Lebenszeit in
Bildungseinrichtungen verbringt. Profitiert haben von der Verlängerung der
Ausbildungszeit und der Ausweitung des Bildungssystems vor allem die
Mädchen, denn sie erwerben heute im Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse
als ihre männlichen Altersgenossen und können somit zu Recht als Gewinner
der Bildungsexpansion bezeichnet werden. Nach wie vor große
Bildungsunterschiede bestehen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen
Schichten. Zwar präferiert die Mehrzahl der Eltern in Deutschland einen
hohen Abschluß für ihre Kinder, aber die vorhandenen Unterschiede zwischen
den Herkunftsmilieus lösen sich dadurch nicht auf. Denn nur 28% der
Jugendlichen, deren Vater einen niedrigen Bildungsabschluß hatte,
erzielten selbst einen hohen (Abitur, Studium), im Vergleich zu 43% ihrer
Altersgenossen, deren Vater einen mittleren oder 75%, deren Vater selbst
einen hohen hatte. Bildung wird nach wie vor ‘vererbt’ und dies trotz
einer deutlichen gestiegenen intergenerationalen Bildungsmobilität.
Neben den
Schichtdisparitäten sind wir noch auf weitere (aus-)bildungsbezogene
Friktionen gestoßen, wie sie in ähnlicher Weise auch in der neueren
Jugend- und Bildungsforschung immer wieder ausgewiesen werden:
– Ein
hoher Bildungsabschluß ist keineswegs eine Garantie für den gewünschten
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz (Qualifikationsparadox).
– Je
niedriger die Wertigkeit des Schulabschlusses, desto höher ist die
Wahrscheinlichkeit, auf Einfacharbeitsplätzen oder in der Arbeitslosigkeit
zu landen (Verdrängungswettbewerb).
– Der
Trend hin zu einer längeren und höheren Schulbildung ist begleitet von
einem Anstieg des Vorbildungsniveaus in der beruflichen Ausbildung (Entwertung
von Bildungszertifikaten).
– Die
geschlechtstypische Zuweisung von Ausbildungsplätzen führt zur Tradierung
von frauen- beziehungsweise männerspezifischen Berufsfeldern (feminisation
process).
–
Jugendliche Ausländer und (verstärkt) Aussiedler sind im Schul- und
Berufssystem gegenüber den deutschen Jugendlichen erheblich benachteiligt
(Fremdheit als Desintegrationsfaktor).
Danach
besteht zwischen Jugendlichen, die aus ländlichen Regionen stammen, und
ihren in der Stadt wohnenden Altersgenossen ein starkes Bildungsgefälle.
Am massivsten zeigt sich dies bei denjenigen, die über ein hohes
Bildungsniveau verfügen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß es
auch eine ausgeprägte Bildungswanderung aus den ländlichen Regionen in das
urbane Oberzentrum gibt. So nimmt etwa die Hälfte der Jugendlichen aus dem
Umland, die ein Studium beginnt, dies in Trier auf. Dieser Faktor
minimiert zwar das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land, gleicht es
aber nicht völlig aus. Vor allem die Differenz beim mittleren
Bildungsniveau (Stadt: 23%; Land: 41%) bleibt erklärungsbedürftig.
Die Gründe
hierfür sind vielschichtig. Im Vergleich zu den Landregionen dürften für
das Stadtgebiet neben dem bereits angesprochenen wachsenden Anteil von
Studierenden auch das größere Angebot an weiterführenden Schulen und die
bessere Verkehrsinfrastruktur eine wichtige Rolle spielen. Ebenso finden
hoch qualifizierte Arbeitskräfte hier eher adäquate
Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese Struktureffekte sind aber noch um einen
wichtigen Aspekt zu ergänzen: den Einfluß des Bildungsniveaus der Eltern
auf den Bildungsgrad ihrer Kinder. Vor allem der enge Zusammenhang
zwischen dem niedrigen Bildungsstatus des Vaters und dem entsprechenden
Bildungsniveau des Kindes wirkt bezogen auf ländliche Regionen als
Co-Faktor, denn hier ist die untere Bildungsschicht der Eltern deutlich
überrepräsentiert. Auch unsere Studie bestätigt somit einen allgemeinen
Befund der Bildungs(ungleichheits)forschung: “Je größer der Wohnort ist,
desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für den Besuch einer
weiterführenden Schule bzw. des Gymnasiums. Dies gilt für Jungen und
Mädchen gleichermaßen.”
Auf eine
interessante Entwicklung ist noch hinzuweisen. Neben der ‘verordneten’
Bildung gibt es einen starken Trend zur freiwilligen Selbstqualifizierung.
Sichtbar wird dies sowohl an einem besonderen Lernhabitus als auch in der
Kumulierung von Ausbildungsgängen (Stichwort: Doppelqualifikation).
Immer mehr Jugendliche erkennen offensichtlich die Notwendigkeit von
zukunftsorientierten Anpassungs- und Wissenserwerbsstrategien, um vor
allem die Umstrukturierungen in der Arbeitswelt erfolgreicher meistern zu
können. Auch wenn diese individualisierten Lern- und Leistungsformen eng
mit dem formalen Bildungsniveau zusammenhängen und damit
Marginalisierungstendenzen für die Niedrigqualifizierten sich noch
verschärfen dürften, sie sind auch ein Beleg dafür, welchen Stellenwert
die heutige Jugend der Berufstätigkeit zumißt. Oder wie dies ein
16jähriger Jugendlicher (Markus) so prägnant formuliert hat:
“Arbeit
ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.”
Die hier
zum Ausdruck gebrachte sachliche und nüchterne Einschätzung von
Berufsarbeit repräsentiert den Kern eines Selbstverständnisses der
heutigen jungen Generation, das sich durch Realitätsbezug und
Selbstverantwortung auszeichnet. In der neueren Jugendforschung wird aus
diesem Grund der vermehrt zu beobachtende Arbeitspragmatismus der
Jugendlichen als konsequente Folge eines allgemeinen Lebenspragmatismus
gedeutet. Gemeint ist damit, daß der Entgrenzung und Optionalisierung
heutiger Lebensverhältnisse eine Individualisierung und Flexibilisierung
der Jugendlichen Erwerbsbiographie korrespondiert. Auch wenn die
Einschätzungen von Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer bisweilen noch
einen starken Szenariencharakter erkennen lassen, ihre Grundaussage
erscheint uns nicht nur absolut zutreffend zu sein, sondern auch einen
Eckpfeiler künftiger Jugendforschung zu markieren: “Nach dem Ende der
soziokulturellen Normalität von Normalerwerbsbiographien wird so etwas wie
Lebenserfolg vermutlich unabdingbar mit der individuellen Fähigkeit
verbunden sein zum flexiblen Zusammenbasteln der je eigenen Existenz aus
je (zufällig) zuhandenen beziehungsweise sich eröffnenden (Erwerbs-)Chancen.
(...) Die Pioniere einer anderen Moderne werden (...) nicht
Spezialisten oder gar Hyper-Spezialisten sein, sondern Träger von (und
Spieler mit) so genannten Kernkompetenzen und Basisqualifikationen – d.h.
von (beziehungsweise mit) Fähigkeiten zur Strukturerfassung, von
(beziehungsweise mit) Kenntnissen abstrakter Verfahrenstechniken
und von (beziehungsweise mit) Strategien der Erfassung und
Entsprechung von in kleinen sozialen Kontexten je spezifischen
Relevanzen.”
2.
Freizeit und Medien
Um
Entwicklungen im Freizeitbereich in den letzten knapp zwei Jahrzehnten
genauer fassen zu können, werden zu Vergleichszwecken Ergebnisse aus den
beiden Vorgängerstudien Jugend und Neue Medien von 1985 und der
Westeifelstudie von 1991 in die Ergebnisdarstellung miteinbezogen. Aus
Gründen der Übersichtlichkeit beschränken wir uns dabei auf drei für den
jugendlichen Freizeitraum charakteristische Aktivitäten: Geselligkeit,
Sport und kulturelle Betätigungen.
Dabei
zeigt sich, daß die höchste Priorität im Freizeitverhalten ganz eindeutig
gesellige Aktivitäten im Kontext von Gleichaltrigen haben. Das Treffen von
Freunden, das gemeinsame Ausgehen in Kneipen und Diskotheken oder
Kinobesuche, für alle diese Unternehmungen, die Jugendliche gern unter dem
Oberbegriff ‘weggehen’ zusammenfassen, gilt: Man will mit Altersgleichen
zusammenkommen, um Bekanntschaften zu machen, Freundschaften zu pflegen,
gemeinsam Spaß zu haben. Ob Stadt oder Land, Mitte der 80er Jahre oder
heute, das Zusammensein mit Freunden und die Spaßunternehmungen in einer
Jugendclique prägen die Freizeit der Heranwachsenden. Für ihre Cliquen
wenden sie dabei auch einen erheblichen Teil ihrer freien Zeit auf. Zudem
haben sie einen starken Einfluß auf das Konsumverhalten, wobei dem
neuesten Handy-, CD-Player- oder Jeans-Modell in vielen Fällen die
Bedeutung von demonstrativen Status- und Abgrenzungsszeichen zukommt, wie
in den Gesprächen mit den Jugendlichen immer wieder herausgestellt wurde.
Um nur ein Beispiel aus einer Fülle von sinngemäß ähnlichen Äußerungen
anzuführen: “Medien und Klamotten sind einfach hip, ein Muß, Maßstab”
(Claire, 16 Jahre). Im freizeitlichen Peer- oder Gruppenbezug
manifestiert sich vielfach auch eine ausgeprägte Suche nach intensiver
sinnlicher Erfahrung und körperbetonter Selbstdarstellung, verbunden mit
einer hohen Bewegungsmobilität, die sich teilweise zu einem wahren Kult
der Motorisierung verdichtet.
Während
die Freundes- und Cliquenrate eine hohe Konstanz in der Zeitdimension
aufweist, unterliegt das Interesse an sportlichen Aktivitäten größeren
Schwankungen. Dabei fällt auf, jedenfalls ist dies der erste Eindruck, daß
die Popularität des Sports als freizeitliches Handlungsfeld abgenommen
hat. Diese Aussage ist allerdings zu relativieren, denn im Verständnis der
Jugendlichen ist Sporttreiben immer noch sehr stark institutionell
geprägt. Viele neuere Sportarten wie Skaten, Streetball, Spinning, Squash
u.a., die nicht im Rahmen von Vereinen, sondern in Form
selbstorganisierter oder kommerzialisierter Freizeit stattfinden, werden
von ihnen nicht zum klassischen Sportensemble gerechnet. Etwas mehr als
ein Fünftel der Jugendlichen (22%) betreibt diese Spaßsportarten, so daß
insgesamt die Sportlerrate eher zugenommen hat.
Auch wenn
Fun- und Vereinssport bisweilen in eine harte Konkurrenzsituation geraten
können, die Mehrzahl der Jugendlichen (63%) verbringt immer noch einen
nicht unerheblichen Teil ihrer Freizeit in Sportvereinen,
Hilfsorganisationen oder anderen vereinsähnlichen Institutionen, wobei
fast ein Viertel (23%) gleichzeitig Mitglied in mehreren Einrichtungen
ist. Der bei weitem beliebteste Typus ist aber zweifelsohne der
Sportverein. Mit deutlichem Abstand folgen Mitgliedschaften in
freiwilligen Hilfsorganisationen, Musikvereinen oder kirchlichen Gruppen.
Die geringste Resonanz finden Jugendverbände, Fanclubs und politische
Jugendorganisationen. Bezogen auf die Gesamtmitgliedschaft in
Freizeiteinrichtungen ist auffällig, daß der Anteil der Jungen (72%) höher
ist als derjenige der Mädchen (55%) und daß mit zunehmendem Alter das
Engagement zurückgeht. Auch der Wohnort und die Region nehmen Einfluß auf
die Vereinszugehörigkeit. Es zeigt sich nämlich, daß besonders im
ländlichen Raum institutionalisierte Formen der Freizeit eine wichtige
Rolle spielen (Land: 66%; Stadt: 56%). Viele Landjugendliche sind – auch
aufgrund ihrer Mehrfachmitgliedschaften – im Wortsinne Vereinsmeier. Die
Gründe hierfür liegen zum einen im geringeren Angebot an anderen
Freizeitmöglichkeiten, zum anderen kommt Vereinen – gerade im dörflichen
Umfeld – auch eine wichtige lokale Integrationsfunktion zu. Denn hier “hat
es gleichsam Tradition,” so konstatiert auch Claus J. Tully, “im Verein
mitzutun, er ist Moment sozialer Konformität.”
Kaum
verändert hat sich zu den drei Erhebungszeitpunkten der Anteil der
Jugendlichen, die künstlerisch-musische Betätigungen in ihrer Freizeit
ausüben. Auch haben wir keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß es bei den
schon als traditionell geltenden Aktivitäten in diesem Bereich, etwa
Musizieren, Malen, Basteln, eine Verschiebung oder Umgruppierung gegeben
hat. Etwa ein Viertel der Jugendlichen, meist Mädchen und junge Frauen mit
einem höheren Bildungsniveau, sind in dieser Freizeitkategorie zu finden.
Ein kleiner Teil von meist männlichen Jugendlichen träumt auch von einer
Musiker- oder DJ-Karriere. Inwieweit sie dabei von dem Trierer
Schlagerbarden Guildo Horn beeinflußt sind, ist nicht näher untersucht
worden. Daß jedoch der Gewinn des regionalen Rockförderpreises – damals
noch als Mitglied der Band Eve and the Handymen – den Startpunkt
einer veritablen Künstlerlaufbahn sein kann, hat der Meister von der
Mosel, wie ihn seine Fans nennen, eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Was sich an der Fangemeinde des
‘Meisters’ andeutet, ist durchaus verallgemeinerbar:
Innerhalb des Freizeitraums nehmen Medien, Stars und Idole eine immer
wichtigere Funktion ein. Ja man kann sagen, Jugendliche sind heute wahre
Medienfreaks: Sie nutzen (fast) alle Medien (fast) überall und zu (fast)
allen Tageszeiten. Medien stehen also keineswegs in einem Verdrängungs-
und Substitutionsverhältnis zueinander, wie oft behauptet wird, sondern
sie sind untereinander durchaus anschlußfähig und auch miteinander
kombinierbar. Auch die immer wieder kolportierte These, wonach vor allem
Computer und Internet zum Bedeutungsverlust der Printmedien führen würden,
ist nicht haltbar. Im Gegenteil, wenn überhaupt eine mediale Fokussierung
zu beobachten ist, besteht sie zwischen diesen Medientypen. Ansonsten ist
für den Umgang der Jugendlichen mit den unterschiedlichsten Medien viel
eher eine auf Komplementarität ausgerichtete Bastel- oder
Collagenmentalität bezeichnend.
Wie sieht
nun die jugendliche Medienfaszination im einzelnen aus? Geordnet nach der
regelmäßigen Nutzung, zeigt sich folgendes Präferenzmuster: An erster
Stelle steht das ‘Fernsehen’ (88%), dicht gefolgt von ‘CDs/Schallplatten’
(80%) und ‘Radio’
(80%). Printmedien wie ‘Zeitungen’ (48%), ‘Bücher’
(27%) und ‘Zeitschriften’
(21%) folgen mit einigem Abstand. Auch ‘Computer’
(38%) und ‘Internet’
(15%) haben mittlerweile
ihren festen Platz im täglichen Medienpotpourri der Jugendlichen. Auf
‘Kino’ (3%) und ‘Comics’
(2%) entfallen dagegen die
wenigsten Nennungen. Hier ist jedoch eine Differenzierung notwendig.
Erweitert man nämlich das Nutzungsspektrum bis hin zur Antwortkategorie
‘einmal pro Monat/seltener’, dann steigt beispielsweise die Rate der
jugendlichen Internetnutzer auf 48% und die der Kinogänger sogar auf 95%.
Was hier sichtbar wird, sind zum einen medienspezifische
Nutzungsfrequenzen und -intensitäten, zum anderen aber auch mediale
Gewohnheitsbildungen und Kontinuitätsvorstellungen, die an
unterschiedliche Zeitrhythmen gekoppelt sind.
Unbestreitbar gilt aber: Fernsehen und Musikhören sind seit Anfang der
90er Jahre die unangefochtenen Spitzenreiter im jugendlichen
Medienensemble. Die Nutzung von Printmedien ist in diesem Zeitraum dagegen
leicht zurückgegangen. Zu den größten Verlieren, jedenfalls hinsichtlich
der Intensität der Nutzung, zählt jedoch das Medium Video, zu den größten
Gewinnern Computer und Internet. Denn vier Fünftel der Jugendlichen
verfügen derzeit bereits über Erfahrung im Umgang mit dem PC und immerhin
fast die Hälfte mit Netzkommunikation. Auffällig sind dabei die zum Teil
sehr großen Nutzungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen, Hoch- und
Niedriggebildeten und Stadt- und Landjugendlichen. Selbst wenn das
regionale Gefälle bei der Nutzung der neuen Medien zu einem nicht
unerheblichen Teil auf die bereits erwähnte Bildungsungleichheit
zurückgeführt werden kann, so erweist sich insgesamt der ländliche Raum
doch als erheblicher Benachteiligungsfaktor. Vor allem die jugendlichen
Surfer sind hier noch deutlich unterrepräsentiert. Während in der Stadt
sechs von zehn das Internet nutzen, ist es auf dem Land nicht einmal jeder
Vierte.
Daß gerade
in ländlichen Gebieten lebende jugendliche Hauptschüler die unfreiwillige
Computer- und Internetabstinenz als enttäuschend und resignativ erleben,
ist des öfteren in sehr deutlichen Worten angesprochen worden: “An uns
ist der Internetzug doch längst vorbeigefahren” (Heiko, 15 Jahre).
Oder: “Wir haben an unserer Schule keine Computer. Wir werden auch
keine bekommen oder nur Müll. Verdienen wir nichts Besseres (Sabine,
15 Jahre)? Auch wenn der Erwerb entsprechender Medienkompetenzen zu einer
neuen, breitgefächerten Bildungsoffensive geführt hat, so profitieren von
entsprechenden Angeboten und Maßnahmen nicht alle Jugendlichen in gleicher
Weise. Im Gegenteil, aufgrund unterschiedlicher Ressourcen und
Zugangschancen zu den neuen Medien ist zu befürchten, daß hier neue
soziale Verwerfungen entstehen resp. vorhandene vertieft werden. Ob
die fortschreitende Mediatisierung der Lebenswelt letztlich zur Ausbildung
einer “medialen Klassengesellschaft”
führt, in der sich zwei antagonistische Informationsklassen – die
Informationsreichen und die Informationsarmen – mit höchst
unterschiedlichen Teilhabe- und Selbstverwirklichungschancen
gegenüberstehen, bleibt abzuwarten. Entsprechende Tendenzen sind jedoch –
auch unter den Jugendlichen – unübersehbar.
3.
Wertorientierungen und Lebensziele
“Eine
Vorlage für die eigene Existenzform gibt es nicht mehr. (...) Und
geblieben ist die Absicht dieser Generation, sich zu erproben und das
eigene Leben und die eigene Arbeit als Experiment zu begreifen. Dieses Maß
an Individualisierung ist verdammt neu.”
Unter
diesen Bedingungen sind auch – oder gerade – die heutigen Jugendlichen
nicht mehr in einem homogenen sozialen Raum verortet, sondern sie sind
sozio-kulturelle Grenzgänger, die höchst unterschiedliche Lebensbereiche
koordinieren und integrieren müssen, in denen jeweils andere
Anforderungen, Regeln und Normen gelten. Wie gehen sie aber mit den
Herausforderungen der enttraditionalisierten, offenen Gesellschaft der
Gegenwart um?
Unsere
Ergebnisse vermitteln hier ein eindeutiges Bild: Die Wertorientierungen
und Grundüberzeugungen der Jugendlichen sind gleichsam ein Spiegelbild
dieser Situation. Dies ist zunächst einmal daran ablesbar, in welch hohem
Maße die unterschiedlichen Wertvorstellungen bei den Jugendlichen auf
Akzeptanz stoßen. Ob es sich dabei um individuelle (‘sich selbst
verwirklichen’) oder soziale (‘anderen Menschen helfen’) Orientierungen
handelt, um materielle (‘ein hohes Einkommen anstreben’) oder immaterielle
(‘unabhängig sein’), aktivische (‘etwas leisten’) oder eher passivische
(‘das Leben genießen’), um risikofreudige (‘aufregendes, spannendes Leben
führen’) oder risikolose (‘auf Sicherheit bedacht sein’), um
konventionelle (‘pflichtbewußt sein’) oder unkonventionelle (‘kritisch
sein’) Vorstellungen, wir finden sie vielfach gleichzeitig im jugendlichen
Wertekanon präsent, wenn auch nicht gleichrangig. Nicht Homogenität
scheint für ihr heutiges Werteverständnis charakteristisch zu sein,
sondern Heterogenität. Also: Patchwork-Muster auch bei ihren
Leitvorstellungen und Lebenszielen?
Das
jugendliche Wertensemble ist nicht nivelliert, sondern es kennt sehr wohl
Abstufungen. Dabei sind es vor allem die individuellen Werte, welche die
Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Einzelnen
betonen, die Vorrang genießen vor Orientierungen und Handlungsmustern, die
sich auf das gemeinschaftliche Miteinander oder die materielle Sicherheit
beziehen. Aber die Differenzen sind nicht so groß, daß sie auf ein
‘entweder oder’ hinauslaufen, vielmehr scheint für die jugendliche
Wertsicht ein ‘sowohl als auch’ bezeichnend zu sein. Es können somit für
ihr Werteverständnis zwei parallel verlaufende Entwicklungen konstatiert
werden: eine Wertesynthese und eine Werteverschiebung. Dies belegt auch
die Antwortverteilung des von uns gebildeten hochaggregierten Werteindex.
Fast die
Hälfte (47%) der befragten Jugendlichen fällt in die Kategorie Mischtyp,
d.h. sie repräsentieren in beinah schon paritätischer Form eine
koinzidente Wertauffassung. Aber auch ein weiterer Trend ist offenkundig:
Selbstentfaltungswerte haben einen höheren Kurswert als Pflicht- und
Akzeptanzwerte, wie die Anteilsdifferenz zeigt (Selbstentfaltung:
36%; Pflicht/Akzeptanz: 17%). Da diese beiden Wertebereiche der
Konzeptualisierung von postmaterialistischen und materialistischen
Wertedimensionen Ronald Ingleharts
sehr
nahe kommen, läßt sich hier auch ein Wertewandel feststellen. Zwar hat
unter den Jugendlichen keine Werterevolution stattgefunden, wie der
amerikanische Werteforscher prognostizierte, aber doch eine deutliche
Werteverschiebung zu postmaterialistischen Orientierungen.
So gesehen
ist die These von der Pluralisierung der Lebensstile für die heutige
Jugend zu erweitern resp. zu ergänzen um eine Pluralisierung der
Wertemuster. Das bedeutet, mehrschichtig und mehrgleisig ist nicht nur
ihre Biographie – und zwar von den Partnerschaftsmodellen über die
Berufsrollen bis hin zu den Wohnformen –, sondern mehrdimensional sind
auch ihre Ziele, Orientierungen und Wertentscheidungen.
Patchwork-Identität und Patchwork-Werte fallen mehr und mehr in eins.
Insofern ist für die heutige Jugend eine spezifische Form von
Wertemischung charakteristisch. Und es sind vor allem die Jugendlichen
selbst, die dafür nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihren
Selbstthematisierungen genügend Anschauungsmaterial liefern, wie die
folgende Aussagensynopse anschaulich belegt:
“Welche
Werte und Ziele für mich wichtig sind? Das ist schwer auf einen Punkt zu
bringen, weil es ganz verschiedene sind. Vor allem zählt für mich
Ehrlichkeit und Treue. Natürlich auch Spaß, was erleben. Mein Ziel ist es
auch, meine Träume vom Leben und im Leben zu verwirklichen. Familie, Haus,
Kinder, davon träumt wohl jeder. Davon kann ich jedoch nicht ausgehen. Ich
glaube, mein Ziel im Leben habe ich dann erreicht, wenn ich alle
Situationen, die einem das Leben so stellt, meistere und mit mir selbst
zufrieden bin”
(Kerstin, 16
Jahre).
“Mir
persönlich ist es wichtig, mir selber treu zu bleiben, bei allem was mir
im Leben widerfahren wird. Mein Ziel ist es, ein glückliches und erfülltes
Leben zu haben. Außerdem ist Gesundheit und ein Arbeitsplatz, der mir Spaß
macht, wichtig. Man sollte offen gegenüber allem Neuen sein und sich nicht
verschließen. Man sollte ehrlich sein und andere Menschen akzeptieren und
keinen Druck auf sie ausüben. Erfolg im Beruf ist auch wichtig, damit man
mit sich selbst zufrieden ist”
(Jürgen, 18
Jahre).
“Dinge,
die mir im Leben wichtig sind: gesicherte finanzielle Zukunft, guter
Beruf, Familie, Ehrlichkeit, Treue, Vertrauen, Gesundheit, Glück im Leben
haben, wahre Freunde, die mich so akzeptieren, wie ich bin, auch wenn ich
mich verändere. Mein Ziel: das zu erreichen, was ich mir vornehme und mein
Leben so zu leben, wie ich es mir vorstelle”
(Sigrit, 16
Jahre).
Diese
Aussagen lassen keinen Zweifel daran: Lebensziele und Grundüberzeugungen
haben für Jugendliche eine große Bedeutung. Ihr Wertespektrum umfaßt dabei
eine Vielzahl von materiellen und immateriellen Aspekten, die sie als
wichtig für ihr Leben ansehen. Auch wenn Werteinstellungen nicht mit
Werthandlungen gleichgesetzt werden dürfen, eine wichtige
Orientierungsfunktion kommt ihnen in jedem Fall zu. Allerdings ist die
Orientierungsleistung von Werten – und dies ist ein Wesenszug der heutigen
Jugendgeneration – in hohem Maße kontextgebunden, d.h. auf die aktuelle
Gesellschaftslage und vor allem auf die eigene Lebenssituation
zugeschnitten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der sozio-demographischen
Verankerung und Differenzierung der Wertestruktur der Jugendlichen.
Während
sich hinsichtlich des Geschlechts keine nennenswerten Unterschiede
nachweisen lassen, variiert der Wertekompaß in Abhängigkeit vom Alter und
Bildungsstand der Jugendlichen doch recht deutlich. Je älter sie sind und
je besser gebildet, desto höher ist ihre Zustimmung zu
Selbstentfaltungswerten. Neben Alter und Bildung nimmt auch die regionale
Herkunft massiv Einfluß auf ihre Werturteile. So finden
Selbstverwirklichungswerte mit einer Rate von 47% die absolut höchste
Zustimmung unter den Befragten, die in der Stadt leben. Wer dagegen auf
dem Land wohnt, hat nach wie vor eine starke traditions- und
sicherheitsorientierte Einstellung. Allerdings zeigt die relativ hohe
Mischtyp-Quote von 50%, daß ganz offensichtlich auch auf dem Land die
Wertvorstellungen in Bewegung geraten sind, jedoch weniger im Sinne einer
Wertverschiebung als vielmehr einer Wertanlagerung. Der behauptete Wandel
von Lebenszielen und Werteinstellungen unter den Jugendlichen findet, so
die Quintessenz, primär in städtischen Milieus statt – eine Beobachtung,
die auch durch die Shell-Jugendstudie 2000 bestätigt wird: “Es fällt
generell auf, daß die klassischen Eckpfeiler biographischer Orientierung,
nämlich Berufsorientierung und Familienorientierung, in ländlichen
Gegenden einen höheren Stellenwert besitzen als in Mittel- und
Großstädten. (...) Sollte das ein Indiz dafür sein, daß die Neuerungen für
den Lebensplan und die Impulse für innovative Lebenszieldefinitionen eher
aus den Großstädten zu erwarten sind?”
Dies Frage
kann mit Fug und Recht bejaht werden. Auch in Zeiten medialer Allumfassung
ist der urbane Raum eine Innovationsarena ersten Ranges – und dies für
(jugendliche) Lebensstile und Werthaltungen gleichermaßen. Während das
Land von den Jugendlichen meist als Refugium erlebt wird, gilt die Stadt
als Ressource, in der Kreativität und Experimentierfreudigkeit dominieren.
Allerdings geht die städtische Dynamik, die eine während der explorativen
Projektphase befragte Jugendliche (Ulla, 25 Jahre) sehr anschaulich mit
“höherer Lebensgeschwindigkeit” umschrieben hat, nicht zu Lasten
gemeinschaftlicher Werte und sozialer Integration, wie vielfach vermutet
wird. Dies zeigt sich sehr deutlich in der breiten Zustimmung, die die
Werteitems ‘Rücksicht auf andere nehmen’ (86%), ‘anderen Menschen helfen’
(84%) und ‘Verantwortung für andere übernehmen’ (62%) bei den Jugendlichen
finden. Sie sind also mehrheitlich keineswegs auf einem antisozialen
Ego-Trip, wie ihnen immer wieder unterstellt wird. Im Gegenteil,
Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsorientierung und soziale Verantwortung
sind feste Größen in ihrem Werteverständnis.
Weder die
regionale Herkunft noch das Alter oder der Bildungsstatus der Befragten
zeigen hinsichtlich der Gemeinwohlorientierung größere Unterschiede.
Einzig ein Geschlechtseffekt ist nachweisbar. So sind es deutlich mehr
Mädchen als Jungen, die eine hohe Bereitschaft bekunden, anderen Menschen
Unterstützung zu geben (72% zu 55%). Auch hier sind Parallelen zur
Shell-Studie 2000 offenkundig: “Die Dimension Menschlichkeit kann man wohl
eine Frauen-Dimension nennen. Das überrascht nicht sehr, wenn Frauen
bislang als gemeinhin sozial kompetent oder zumindest als das eher
sozial-integrative Geschlecht gelten.”
Allerdings sollte man die Kooperativität und Hilfsbereitschaft der
Jugendlichen nicht zu sehr an überkommenen Geschlechtsrollenvorstellungen
festmachen. Denn zum einen signalisiert, wie bereits dargestellt, die hohe
Zustimmungsrate bei den sozialen Werten, daß Solidarität und tätige
Nächstenhilfe für die Mehrzahl von ihnen Leitorientierungen sind. Zum
anderen verbindet sich ihr Zukunftsoptimismus dabei aufs Engste mit der
Vorstellung und Hoffnung, künftige Aufgaben und Probleme nur kollektiv
bewältigen zu können. “Als Einzelner stehst du in der heutigen Welt auf
verlorenem Posten,” so umschreibt der 17jährige Lehrling Hans-Uwe sehr
nüchtern die Haltung seiner Generation in diesem Punkt. Und er ergänzt,
schon beinah im Sinne eines Appells: “Bei den kleinen wie bei den
großen Dingen haben wir nur als Gemeinschaft eine Chance.” Daß es sich
dabei keineswegs nur um Lippenbekenntnisse handelt, wird im Kontext der
Analyse jugendlicher Partizipationsbereitschaft und Engagementformen noch
deutlich werden.
4.
Kirchliche und religiöse Bindungen
Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse führen bei den Jugendlichen
also keineswegs zwangsläufig zu einer Ellenbogenmentalität, wie oft
befürchtet wird. Allerdings ist unübersehbar: Auch die Suche nach
(sozialen) Wertvorstellungen und Handlungsmaximen orientiert sich immer
weniger an Traditionen, sondern muß in Eigenregie entwickelt und
verantwortet werden. Damit sind weitreichende Folgen verbunden, die in der
soziologischen Werte- und Religionsforschung als zunehmende
Säkularisierung der Gesellschaft diskutiert werden. Denn weltliche und
religiöse Orientierungsformen und -instanzen geraten vor dem Hintergrund
dieser Entwicklung verstärkt in eine marktähnliche Situation, die durch
einen Verdrängungswettbewerb gekennzeichnet ist.
Die Folgen sind auch in unserer Untersuchung empirisch evident: Das
gewachsene Autonomiebewußtsein der heutigen Jugendgeneration, das in einer
Präferenz für Selbstentfaltungswerten zum Ausdruck kommt, geht einher mit
einer Lockerung und Loslösung von traditionellen kirchlich-religiösen
Bindungen einerseits und einer Subjektivierung und Individualisierung des
Religiösen andererseits.
Zunächst
einmal ist festzuhalten, daß die Kirche bei den Jugendlichen erheblich an
Boden verloren hat. Nur noch etwa ein Fünftel (21%) bekundet eine
ausgeprägte Kirchenbindung, die sich dann auch in entsprechend engagierten
Teilnahmeformen am Gottesdienst, an kirchlichen Festen und in der Gemeinde
zeigt. Ein weiteres knappes Fünftel (19%) ist der Institution zwar noch
verbunden, aber in einer sehr lockeren und distanzierten Form. Die
überwiegende Mehrzahl (60%) ist dagegen heute kirchenfern eingestellt.
Bezüglich der Sozialstruktur der Jugendlichen zeigt sich dabei ein
durchgehendes Muster: Es sind eher die Mädchen als die Jungen, die
Jüngeren etwas häufiger als die Älteren, die in ländlichen Regionen
Wohnenden eher als diejenigen in Stadtgebieten und katholische Jugendliche
häufiger als evangelische, die sich zur Kirche bekennen. Die ausländischen
(muslimischen) Jugendlichen nehmen hier eine Sonderstellung ein, denn sie
sind entweder sehr eng mit ihrer Kirche verbunden, oder aber sie meiden
konsequent religiöse Einrichtungen, Praktiken und Gruppierungen.
Auf zwei
Entwicklungen ist in diesem Zusammenhang noch näher hinzuweisen. Zunächst
einmal ist festzuhalten. daß der jugendliche Rückzug aus der Kirche
verstärkt im letzten Jahrzehnt erfolgte, wie Vergleiche mit den 1991 in
der Westeifelstudie erhobenen Daten zeigen. Besonders drastisch
wird die gestiegene Kirchenferne an den Antworten auf die Frage deutlich:
“Wie stehst Du zur Institution Kirche?”
Während
Anfang der ‘90er Jahre die Haltung der Jugendlichen gegenüber der Kirche
noch ausgeprägt positiv war – immerhin schätzten sich damals zwei Drittel
als zumindest ‘interessiert’ an kirchlichen Belangen ein –, dominiert in
der aktuellen Untersuchung eine skeptische bis negative Einstellung.
Obwohl sich auch gegenwärtig die große Mehrheit der Jugendlichen (über
90%) noch zu einer Konfession bekennt, fühlt sich nur eine Minderheit von
knapp einem Drittel mit der Institution Kirche verbunden.
Der
Bedeutungsverlust der Kirche ist auch in den Vorgesprächen immer wieder
artikuliert worden. Sie ist in der Wahrnehmung der Jugendlichen, wie eine
kleine Auswahl von kritischen Äußerungen zeigt, “viel zu hausbacken”
(Karsten, 16 Jahre), “altmodisch” (Sylvia, 21 Jahre),
langweilig” (Ruth, 24 Jahre), “ewig gestrig” (Sarah, 19 Jahre)
oder “Lichtjahre weg von dem, was Jugendliche bewegt” (Gunnar, 17
Jahre).
Jedoch
handelt es sich bei vielen Jugendlichen keineswegs um eine
Fundamentalopposition zur Kirche, sondern um eine Art kritischer Distanz.
Dies zeigt sich u.a. darin, daß die Mehrzahl (58%) die Aussage: “Ich stehe
zur Kirche, aber sie muß sich ändern” bejaht hat. Dabei sind es in erster
Linie diejenigen, die (noch) kirchlich interessiert und engagiert sind,
die sich in dieser Weise äußern. Es sind ganz offensichtlich sehr konkrete
Erfahrungen und Fragen, an denen sich die Kritikbereitschaft entzündet.
Gerade weil man, so die etwas paradoxe Schlußfolgerung, die Kirche für
wichtig erachtet, will man sie ändern. Die sozialstrukturelle Analyse
bestätigt diese Vermutung: Es sind vor allem die Jugendlichen mit einer
stärkeren Kirchenbindung – also Mädchen und junge Frauen sowie auf dem
Land lebende Jugendliche –, die verstärkt den Wunsch nach Veränderungen in
der Kirche bekunden. Negativ formuliert: Wenn das Band zur Kirche und
Konfession einmal gerissen ist, dann ist es sehr schwer
wiederherzustellen.
Haben auch
die Glaubensüberzeugungen der Jugendlichen in gleicher Weise an Bedeutung
verloren? Gibt es mithin eine Parallelentwicklung zwischen abnehmender
Kirchen- und Religionsbindung? Hier sind wir auf eine andere Entwicklung
gestoßen, denn kirchliche und religiöse Orientierungen erfahren im
Selbstverständnis der Jugendlichen eine durchaus unterschiedliche
Wertschätzung. War hinsichtlich ihrer kirchlichen Praxis das Zustimmungs/Ablehnungsverhältnis
1 zu 3, so ist es im Blick auf ihre Glaubensbindung genau umgekehrt. Zwar
ist im Vergleich zur Westeifelstudie von 1991 auch hier ein
Bedeutungsverlust der christlichen Religiosität zu konstatieren, aber er
fällt zum einen nicht so dramatisch aus wie bei der Kirchlichkeit und zum
anderen bezieht er sich in erster Linie auf die Alltagsrelevanz des
Religiösen. Als fundamentale Sinninstanz ist Religion nach wie vor
wichtig, was sich nicht zuletzt auch in dem Bekenntnis vieler Jugendlicher
zu einem Leben nach dem Tode zeigt.
Ohne Frage
ist es aber zu einer Lockerung und teilweise auch Entkoppelung von
Religion und Kirche in der jugendlichen Lebenswelt gekommen. Denn nur
knapp die Hälfte (46%) derjenigen, die sagen, sie seien sehr religiös,
haben auch eine hohe Kirchenbindung. Selbst intensive Formen der
Glaubensbindung sind also keineswegs mehr uneingeschränkt kirchennah
verortet – eine Entwicklung, die auch deutliche Tendenzen in Richtung
einer zunehmenden Privatisierung des Religiösen erkennen läßt. Eine zweite
Entwicklung ist ebenso offenkundig: Religiöse Überzeugungen und
Kirchennähe stehen in einem Bedingungsverhältnis, wobei die Frage nach
Ursache und Wirkung allerdings schwer zu entscheiden ist. Jedoch ist
unübersehbar, daß parallel zum Rückgang der Religiosität auch die
Kirchenbindung sinkt. Am Ende dieses Prozesses der Abkühlung und Auflösung
des Religion-Kirche-Verhältnisses findet sich jenes Drittel von
Jugendlichen, die sich selbst als areligiös einstufen.
Für die
Mehrzahl der Jugendlichen sind Glaubensfragen jedoch keineswegs belanglos
geworden, wie immer wieder behauptet wird. Im Gegenteil, Religion ist für
sie – vor allem auf einer sehr grundlegend existentiellen Ebene – nach wie
vor von Bedeutung und nimmt in ihrem Leben einen wichtigen Platz ein, auch
wenn sie dies vermehrt für sich behalten. Denn fast zwei Drittel (62%)
stimmen ganz oder doch teilweise der Aussage zu: “Ich glaube, daß viele
Jugendliche insgeheim sehr viel stärker an Religion bzw. Glaubensfragen
interessiert sind, als es den Anschein hat.” In dieser Auffassung herrscht
im übrigen unter den Jugendlichen weitestgehend Konsens. Denn während bei
fast allen anderen Religionsfragen Geschlechts-, Alters-, Bildungs-,
Regions- und Konfessionsunterschiede bestehen, wird die unzureichende
Wahrnehmung der religiösen Haltung der anderen recht einheitlich
eingeschätzt. Ganz offensichtlich gibt es also nicht nur einen Trend zur
unsichtbaren Religion (Luckmann), sondern – und vielleicht noch
stärker – zur unausgesprochenen Religion. Man wähnt sich in einer
Defensivposition und vermeidet es, vor allem unter religiös
Desinteressierten, seine Glaubensüberzeugungen anzusprechen. Im Sinne
einer religiösen Schweigespirale erscheinen dann Religion und Glauben
kommunikativ vielfach als nicht existent. Wie sehr die religiöse
Schweigespirale sich in die Jugendmentalität bereits eingespurt hat,
belegt die folgende Auswahl von qualitativ-schriftlichen Stellungnahmen
zur o.g. Frage, um die wir mehrere Schulklassen nach Abschluß der
quantitativen Erhebung gebeten haben:
“Ich
glaube schon, viele sagen es nicht, daß sie daran interessiert sind, weil
sie sich vielleicht vor ihren coolen Freunden, die es absolut nicht
interessiert, schämen. Sie haben vielleicht Angst, daß sie von ihnen nicht
mehr so akzeptiert werden, wie sie sind, wenn sie zugeben, daß sie an
Religion und Glaubensfragen interessiert sind” (Maithe, 16 Jahre).
“Ich
sehe das eigentlich genauso. Viele Jugendliche, denke ich mal, glauben an
Gott, wollen dies aber nicht in aller Öffentlichkeit zugeben, weil sie
Angst haben, von den anderen ausgelacht zu werden. Deshalb trauen sie sich
nicht, sich zu ihrer Religion zu bekennen. Die Angst ausgelacht zu werden
liegt größtenteils daran, daß die Kirche ein schlechtes Image hat als
Langweileranstalt usw.” (Sven, 16 Jahre).
“Ich
glaube, diese Aussage trifft voll zu, allerdings sollte man das näher
definieren: Viele Jugendliche setzen sich mit der Religion auseinander,
indem sie die Religion/den Glauben hinterfragen oder in Frage stellen! Ich
denke, daß der Glaube an Gott beziehungsweise Gott selber etwas absolut
Unbekanntes hat und den meisten Jugendlichen völlig unbekannt ist. Und da
Geheimnisse und Unbekanntes Jugendliche interessieren, setzen sich die
Jugendlichen oft auch in eher unbewußter Weise damit auseinander. Das
Zugeben ist allerdings eher ‘uncool’. Solche Leute trauen sich nicht, sich
dazu zu äußern, bis sie ihren Weg zu oder von Gott weg gefunden haben”
(Erik, 15 Jahre).
“Ich
stimme dieser Meinung im Prinzip zu. Viele trauen es nicht zuzugeben, daß
sie insgeheim doch an eine Existenz Gottes glauben. Ich kann das auch aus
eigener Erfahrung berichten: Als wir in der Schule ein öffentliches
Gebetstreffen in der Pause veranstalteten, gab es überraschend viele
Schüler, die neugierig vor der Tür standen und beratschlagten, ob sie sich
trauen sollten mitzumachen. Die meisten sind wieder gegangen, aber es war
immerhin Interesse da, und am Musiksaal, in dem wir waren, kommt man nicht
‘von alleine’ vorbei, da er im 2. Obergeschoß liegt. Es sind zwar viele,
aber keineswegs alle, auf die diese Aussage zutrifft. Die meisten sind
wohl auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben Sinn geben kann. Schule und
Schlafen kann ja nicht alles sein. Manche versuchen diesen Sinn in Partys
zu finden, aber das geht auf die Dauer auch nicht gut. Die Jugendlichen
suchen etwas, das Perspektive geben kann” (Jessica, 17 Jahre).
Die
Äußerungen der Jugendlichen sind beeindruckende Beispiele dafür, daß
künftig die religiöse Spurensuche verstärkt auch unterhalb der
öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle erfolgen sollte. Manche Befürchtungen
über die jugendliche Abkehr von Religion dürften vor diesem Hintergrund
eher Resultat einer sehr vordergründigen Beobachtung sein und weniger dem
versteckten religiösen Potential der Jugendlichen Rechnung tragen.
Allerdings geraten standardisierte Forschungsmethoden hier an ihre
Grenzen. Diese zu überwinden und zu den verborgenen Dimensionen ihrer
Religiosität vorzustoßen, setzt einen Grad an Intimität, Vertrauen und
Kontinuität voraus, wie sie nur in einer Mischung aus biographischer und
ethnographisch Forschung möglich werden.
Dann freilich gelangt man auf ein weites religiöses Feld, das im
Selbstverständnis der Jugendlichen keineswegs nur durch eine Glaubensform
und -gemeinschaft bestimmt ist. Vielmehr haben wir in unserer Untersuchung
auch Anhaltspunkte dafür gefunden, daß Jugendliche christliche und
nichtchristliche Glaubensüberzeugungen und Daseinsdeutungen miteinander
kombinieren. Daß sie neue Glaubensinhalte ausschließlich in alternativen
religiösen Gruppen wie Sekten oder im Okkultismus finden, können wir
allerdings nicht bestätigen. Denn gerade ihre Bindung an okkulte Praktiken
wie Tischerücken, Pendeln oder Kartenlegen ist locker und temporär und
steht eher in einer Komplementärbeziehung zum christlichen Glauben und
weniger in einem Substitutionsverhältnis. Der dominante religiöse
Bezugspunkt bleibt für sie das christliche Weltbild. Das bedeutet, für die
Sinndeutung der Welt und die Sinnfindung der eigenen Existenz ist der
christliche Glaube für viele Jugendliche unverzichtbar. Aber er hat
Konkurrenz bekommen, denn alte Gewißheiten im Verhältnis von Jugend,
Religion und Kirche sind durch die gleichzeitige Präsenz von alternativen
Sinnwelten und Deutungsangeboten obsolet geworden. Als Folge müssen
Jugendliche vermehrt auch in Religions- und Sinnfragen, wie dies eine
Befragte (Svenja, 17 Jahre) formuliert hat, “ihre persönliche Linie
finden.”
5.
Politik und Partizipation
Medienwirksame Schlagworte wie Politikmüdigkeit und Politikverdrossenheit
Jugendlicher lösen in der öffentlichen Diskussion immer wieder
Irritationen aus. Denn sie legen den Schluß nahe, Politik sei für
Jugendliche kein Thema mehr, ja mehr noch, sie würden dem demokratischen
System jegliche Loyalität und Unterstützung verweigern. Die Frage ist:
Handelt es sich bei diesen Einschätzungen um zutreffende Beschreibungen
des jugendlichen Politikverhaltens oder um Pauschalisierungen und
Vereinfachungen, die vielleicht mehr über die Urheber dieser Äußerungen
aussagen, als über ihre jugendlichen Adressaten? Vorurteilslosigkeit und
Differenzierungsfähigkeit sind gefordert. Wer sie aufbringt, wird eine –
für manche vielleicht überraschende – Beobachtung machen: Jugendliche sind
weder politikmüde noch politikverdrossen, sondern ihr Politikverständnis
ist differenziert und fügt sich keiner einfachen Denkschablone. Weder das
soziale Umfeld noch die ökologische Umwelt ist ihnen gleichgültig. Dies
ist ein Schlüsselergebnis unserer Studie. Es ist fast deckungsgleich mit
den Befunden der Shell-Jugendstudie 2000: “Jugendliche sind durchaus
engagementbereit,” heißt es hier, “nur nicht zu den Bedingungen der
Erwachsenenpolitik.”
Bei der
Standardfrage nach dem allgemeinen politischen Interesse zeigt sich im
Vergleich zu der Westeifelstudie zunächst einmal ein Rückgang, denn
seit 1991 hat sich der Anteil der politisch Desinteressierten unter den
Jugendlichen von 12% auf 27% mehr als verdoppelt. Ungeachtet der
rückläufigen Tendenz, interessiert sich aber die Majorität nach wie vor
für Politik. Allerdings unterliegt die Interessensrate – und zwar in
Abhängigkeit vom Geschlecht, dem Alter und Wohnort sowie vor allem dem
Bildungsniveau der Befragten – zum Teil recht beachtlichen Schwankungen.
Zudem sind wir noch auf zwei weitere, relevante Einflußfaktoren gestoßen.
Zum einen sind Jugendliche, die sich für ihr Handeln selbst verantwortlich
fühlen, sehr viel stärker an Politik interessiert als diejenigen, die
davon ausgehen, daß viele Entscheidungen im Alltag fremdbestimmt sind. Zum
anderen gibt es eine enge Beziehung zwischen Religiosität und politischem
Interesse: Wer nämlich stark religiös geprägt ist, macht sich auch mehr
Gedanken über politische und soziale
Alltagsprobleme. Zwischen dem christlichen Menschen- und Weltbild,
so die naheliegende Schlußfolgerung, und bestimmten auf die Gemeinschaft
bezogenen Werten und Idealen, besteht ein starker Zusammenhang.
Neben der
Frage nach dem politischen Interesse ist auch der Aspekt interessant, für
welche spezifischen politischen Themen sich Jugendliche interessieren.
Dabei lassen sich folgende Differenzierungen nachweisen:
- Zu den
wichtigsten Themen zählen sie Fragen der individuellen und kollektiven
Sicherheit (Arbeit/Arbeitslosigkeit, Friedenspolitik, Umweltschutz) sowie
aktuelle Tagesereignisse. Parteipolitik findet sich dagegen auf den
hinteren Rängen ihres politischen Themenkatalogs. Den geringsten
Aufmerksamkeitswert hat die Frage nach dem ‘Verhältnis alte/neue
Bundesländer’. Für uns ist es derzeit noch eine offene Frage, ob dieses
Ergebnis als Normalisierung der Beziehung zwischen den alten und neuen
Ländern interpretiert werden kann oder als Gleichgültigkeit. Sicherlich
spielt auch eine Rolle, daß für die Jugendlichen in unserer
Erhebungsregion diese Themen nicht so zentral sind wie in anderen Teilen
Deutschlands.
- Das
politische Interesse ist nicht auf ein Thema konzentriert, sondern in der
Regel auf mehrere. Dabei sind Grundorientierungen und -überzeugungen (z.B.
Ökologie, Pazifismus) zu unterscheiden von tagespolitischen Themen und
Ereignissen (z.B. Spendenskandale, Turbo-Abitur). Die thematischen
Präferenzen können sich aber, in Abhängigkeit von der politischen
Großwetterlage und individueller Betroffenheit, auch rasch verändern.
Einen konstant hohen Stellenwert haben für die Jugendlichen jedoch Fragen
nach der Zukunft der Arbeit, die sie zudem aufs Engste mit ihrer
persönlichen Zukunft verknüpfen.
- Die
Mitgliedschaft in oder das Interesse an bestimmten Gruppierungen und
Institutionen nimmt Einfluß auf die Themenpräferenz. So geht die Sympathie
für oder die Mitwirkung in Umweltschutzgruppen einher mit einer starken
Fixierung auf globale Themen wie Kernkraft, Dritte-Welt-Problematik und
ökologische Fragen. Wer sich dagegen in Landjugendverbänden oder
Institutionen der kirchlichen Jugendarbeit engagiert, präferiert eindeutig
lokale Themen und zwar von der Auseinandersetzung über die Nutzung und (Selbst-)Verwaltung
des örtlichen Jugendheims bis zur Bewachung von unter Naturschutz
stehenden Orchideenfeldern.
Angesichts
des Themenspektrums und der hohen Zustimmungsrate kann von einem
allgemeinen Desinteresse der Jugend an politischen Fragen nicht gesprochen
werden. Im Gegenteil, die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen ist
politisch aufgeschlossen und glaubt daran, daß “die kleinen und die
großen Fragen,” wie dies ein Befragter (Hans, 19 Jahre) formuliert
hat, “immer noch am besten in einer Demokratie gelöst werden können.”
Es hat aber fraglos eine Themenverlagerung stattgefunden. Denn im
Vergleich zu der Untersuchung von 1991 ist heute das Thema ‘Arbeit
und Arbeitslosigkeit’ ihr Hauptanliegen und ihre Hautsorge. Dies zeigt
sich in besonderer Weise bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage:
Über zwei Drittel (70%) der Jugendlichn sind davon überzeugt, daß die
ökonomische Krisensituation sich noch verschärfen wird, und fast alle
(93%) gehen davon aus, daß es in Zukunft nicht mehr für jeden einen
angemessenen Arbeitsplatz geben wird. Massenarbeitslosigkeit,
Lehrstellenknappheit und Dauerinnovationen in der heutigen Arbeitswelt
haben offensichtlich in ihrem Bewußtsein tiefe Spuren hinterlassen. Wie
realistisch diese Vorstellungen letztlich auch immer sein mögen, die
Jugendlichen sind davon überzeugt, daß Arbeit in unserer Gesellschaft ein
knappes, ja immer knapper werdendes Gut ist, und sie richten ihre
Ursachenzuschreibungen danach aus. Daß dabei auch (oder gerade) die
Ausländer zunehmend in eine Art Sündenbockrolle gedrängt werden, die
teilweise mit massiven Ablehnungs- und Ausgrnzungsreaktionen einhergeht,
zeigen unsere Ergebnisse sehr deutlich.
Auch wenn
bisweilen der Eindruck entsteht, daß von den Jugendlichen bestimmte
globale Krisenphänomene etwas überzeichnet werden, so führt die daran
gegnüpfte pessimistische Zukunftssicht aber nicht zu einer politischen
Vogel-Strauß-Haltung in der Gegenwart. Im Gegenteil, sie versuchen einen
eigenen politischen Weg zu finden – und zu gehen, wie sich auch an den
Formen ihrer politischen Beteiligung nachweisen läßt.
Zunächst
ist festzuhalten, daß der eigene Weg kein Sonderweg jenseits der
demokratischen Ordnung ist. Denn die häufigsten Nennungen (89%) fallen in
die Kategorie ‘Wählen’, d.h. sich auf klassische Weise an der
Mehrheitsbildung in einer repräsentativen Demokratie zu beteiligen. Was
sie aber besonders schätzen und praktizieren, sind direkte
Partizipationsformen. Bezeichnend hierfür ist die Teilnahme an
Unterschriftenaktionen, Demonstrationen und Streiks. Jugendliche lieben
die spontane Aktion, die sich gegen ganz konkrete Ereignisse und Probleme
wendet. Längerfristige Bindungen und Festlegungen, wie sie für die
Mitarbeit in Bürgerinitiativen, Jugendparlamenten und Parteien
charakteristisch sind, finden dagegen deutlich weniger Zuspruch. Eine
Minorität von Jugendlichen (13%) ist bereit, an gewaltsamen politischen
Aktionen teilzunehmen. Es handelt sich dabei um meist jüngere, männliche
Jugendliche mit niedriger Schulbildung, geringem Selbstvertrauen und einer
pessimistischen Zukunftssicht. Um ihre Interessen durchzusetzen und sich
Anerkennung zu verschaffen, scheuen sie offensichtlich auch vor
Gewaltanwendung nicht zurück. Oder anders formuliert: Wer nur seinen
Körper als Identitätsressource hat, der setzt ihn in konflikthaften
Auseinandersetzungen auch vermehrt ein. Der Weg ins gesellschaftliche
Abseits scheint vorgezeichnet, wenn ihnen keine Hilfe zuteil wird.
Die
überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen greift jedoch auf legale, aber
unkonventionelle Strategien und Initiativen zurück, um ihren politischen
Auffassungen Gehör und Geltung zu verschaffen. Ihr politisches Handeln
zielt dabei auf Themen und Probleme, die sie unmittelbar betreffen. In
erster Linie geht es um ortsbezogene Fragen und Forderungen. So stehen
etwa Treffpunkte für Jugendliche oder Jugendzentren auf ihrer politischen
Agenda ganz oben. Aber auch die Organisation und Durchführung von
Naturschutzaktionen erfreuen sich bei den Jugendlichen einer wachsenden
Beliebtheit, wobei hier vor allem in ländlichen Regionen eine Vielzahl von
Aktionsmöglichkeiten gegeben sind. Hier zeigt sich ein interessanter
Standorteffekt. Denn neben dem Alter und dem Bildungsstand nimmt auch die
Wohnregion Einfluß auf ihr Politikverhalten. Die Unterschiede zwischen in
der Stadt und auf dem Land lebenden Jugendlichen sind nämlich am
ausgeprägtesten, wenn es sich um politische Großaktionen, wie z.B.
Demonstrationen (Stadt: 62%; Land: 46%) und Streiks (Stadt: 52%; Land:
38%), oder um Massenveranstaltungen und Kundgebungen (Stadt: 51%; Land:
38%) handelt. Städte bieten Jugendlichen mehr und andere Möglichkeiten,
sich politisch zu engagieren, was sich in den Ergebnissen ganz eindeutig
widerspiegelt. Aber daraus abzuleiten, Stadtjugendliche seien politischer
als Landjugendliche, wäre voreilig und unzutreffend.
Dies wird
u.a. an Formen der Gemeinwesenorientierung sichtbar. Denn danach befragt,
ob sie eine ehrenamtliche Tätigkeit ausüben, bejahten dies die auf dem
Land wohnenden Jugendlichen (23%) etwas häufiger als die Stadtjugendlichen
(20%). Deutlicher treten die Unterschiede bei der Frage nach der
Mitgliedschaft und Mitwirkung in bestimmten sozialen Institutionen zu
Tage. So engagieren sich Jugendliche aus ländlichen Regionen stärker in
freiwilligen Hilfseinrichtungen wie der Feuerwehr (Stadt: 17%; Land: 28%)
oder dem Deutschen Roten Kreuz (Stadt: 9%; Land: 23%), in Musikvereinen
(Stadt: 13%; Land: 21%), Jugendverbänden (Stadt: 6%; Land: 10%) und
kirchlichen Gruppen (Stadt: 8%; Land: 14%). Und nicht zuletzt wird auch
bei der Frage nach potentiellen Engagementbereichen (“Wo denkst Du, daß Du
auf freiwilliger Basis einen nützlichen Beitrag leisten könntest?”) ein
Stadt-Land-Gefälle sichtbar. Es ist der jeweilige lebensweltliche Nahraum,
der in ähnlicher Weise wie beim Politikhabitus auch für die bereits
realisierte oder geplante Freiwilligenarbeit der Jugendlichen prägend ist.
Daß dabei auch tradierte Geschlechtsrollenmuster unmittelbar wirksam sind,
wie vor allem die ungleichen hilfeorientierten Engagementpotentiale bei
der Kinderbetreuung (Jungen: 25%; Mädchen: 67%), der Hausaufgabenhilfe
(Jungen: 29%; Mädchen: 47%), der Altenpflege (Jungen: 17%; Mädchen: 35%)
sowie die Mitwirkung in Selbsthilfegruppen (Jungen: 14%; Mädchen: 29%)
oder die Betreuung von Aussiedlern (Jungen: 14%; Mädchen: 23%) zeigen, ist
ebenfalls noch erwähnenswert.
Jenseits
aller durchaus vorhandenen und teilweise auch recht massiven
sozialstrukturellen Differenzierungen kann aber festgehalten werden:
Jugendliche zeigen für viele Bereiche ihres sozialen Umfelds Interesse und
können sich durchaus vorstellen, auch hier Engagement zu entwickeln.
Einrichtungen der Jugendarbeit, Sportvereine und Betätigungsfelder in der
unmittelbaren Nachbarschaft – und zwar von der Kinderbetreuung über
Hausaufgabenhilfe bis zur Altenpflege – werden von ihnen als potentielle
Handlungsfelder für Freiwilligenarbeit genannt. Dabei hat das freiwillige
Helfen für sie aber weniger den Charakter von Arbeit, sondern ist eine
Form des Austauschs und der Begegnung und oft auch des gemeinsamen
Spaßhabens. Unterstützung und Geselligkeit gehen Hand in Hand. Ob im
sozialen, kulturellen oder ökologischen Bereich, Anknüpfungspunkte für
gemeinschaftliches Handeln sehen die Jugendlichen in großer Zahl. Sie
setzen sie aber oft nur dann um, wenn sie dabei unter sich bleiben können.
Vergleichbare Abschottungsstrategien sind auch für das bürgerschaftliche
Engagement von Erwachsenen charakteristisch: Man bleibt (auch hier) lieber
unter sich.
Unser
Fazit lautet: Genauso wie das politische Interesse und Engagement, braucht
auch die Freiwilligenarbeit der Jugendlichen lebensweltbezogene
Bezugspunkte. Sie findet in erster Linie im Kleinen und Alltäglichen
statt, ist auf den lokalen Raum konzentriert, ohne daß damit globale
Themen und Problemlagen völlig an Bedeutung verlieren würden. Freiräume zu
erobern – und manchmal auch regelrecht zu besetzen –, auf unkonventionelle
Art Unterstützung für ihre Interessen zu finden, sind für sie genauso
legitime Strategien, wie zur Wahl zu gehen. Jedoch präferieren sie ganz
eindeutig unverbindliche und spontane politische Ausdrucksweisen und
Engagementformen, in denen neben Gestaltungs- und
Mitbestimmungsmöglichkeiten immer auch Kommunikation, Gesellung und Spaß
eine wichtige Rolle spielen. Der lange Schatten der Erlebnisgesellschaft
erstreckt sich ganz offensichtlich auch auf das jugendliche
Politikverständnis. Ihr Politikbild und ihr Politikstil sind gleichsam
jugendkulturell überformt. Dies impliziert, wie Kurt Möller zu Recht
feststellt, daß eine bei der heutigen Jugend “durchaus vorhandene stabile
gesellschaftliche Engagementbereitschaft sich immer weniger in Form von
dauerhafter und verbindlicher politischer Betätigung in (und von)
Organisationen binden läßt.”
Denn
was sie beinahe kategorisch ablehnen, sind die herkömmlichen politischen
Strategien incl. ihrer Vertreter. Ein Jugendlicher hat die ablehnende
Haltung auf den Punkt gebracht: “Nicht mit uns in dieser Form”
(Dirk, 17 Jahre).
Ob und wie
der Abwendung von der Politik der Altvorderen wirkungsvoll begegnet und
Vertrauenswürdigkeit zurückgewonnen werden kann, erscheint angesichts der
immer neuen Politikskandale und Enthüllungen – auch in unserem
Erhebungsgebiet – mehr als zweifelhaft. Auch Roland Eckert ist
hinsichtlich der Vorbildfunktion und Glaubwürdigkeit der herrschenden
Politikerkaste eher skeptisch: “Politik wie überhaupt die öffentlichen
Einrichtungen können die Beteiligungs- und Leistungsbereitschaft von
Jugendlichen mobilisieren. Sie werden dies jedoch nicht tun, wenn sie nur
die Einfügung in die vorgegebenen Strukturen fordern. In der Kirche führt
dies zu institutionalisierter Heuchelei, in der Politik zu Zynismus.
Konservative Appelle werden also nicht wirken. Politik kann darüber hinaus
auch nicht mobilisieren, wenn sie selbst das Bild vermittelt, daß der Homo
politicus nur eine spezialisierte Ausprägung des Homo oeconomicus ist.
Bürger (und es ist hinzuzufügen: auch Jugendliche) wollen gefordert werden
– von Politikern, die selbst etwas von sich fordern. Prosoziale
Motivationen werden am Modell gelernt: Dies gilt auch für die Politik.
(...) Die moralischen Ansprüche an Politik sind gestiegen, dies ist der
positive Kern der sogenannten ‘Parteienverdrossenheit’. Den moralischen
Surplus jugendlichen Lebens wird letztlich nur aktivieren können, wer
deutlich macht, daß die Gesellschaft aktive Jugendliche als Ergänzung oder
Korrektur von Marktmechanismen und institutionellen Regelungen braucht.”
6.
Ortsbindung und Bleibeorientierung
Unter der
Stadt-Land-Perspektive von besonderer Bedeutung ist die Frage: ”Bleiben
oder Gehen?” Mit dieser Kurzformel haben nämlich die Jugendlichen in den
Vorgesprächen immer wieder signalisiert, daß die Entscheidung darüber, ob
man am Wohnort bleiben oder ihn verlassen möchte, für sie eine eminent
wichtige Angelegenheit ist. Auch wenn diese Frage weit in die Zukunft
greift, also eine Zeitperspektive umfaßt, die nur schwer überschaubar ist,
so beschäftigt sie die Jugendlichen dennoch sehr stark.
Dazu haben
wir ihnen sowohl in der Westeifelstudie von 1991 als auch in der
aktuellen Untersuchung folgende Frage gestellt: ”Beabsichtigst Du in
Zukunft in deinem jetzigen Wohnort zu leben?” Bezogen auf die aktuelle
Jugendbefragung ist zunächst einmal ganz allgemein festzuhalten, daß der
Anteil der Befragten, die im Wohnort bleiben oder wegziehen möchten, mit
jeweils knapp 40% etwa gleich groß ist; etwas mehr als ein Fünftel war zum
Erhebungszeitpunkt noch unentschieden. Die Vergleichsperspektive offenbart
aber zwei aufschlußreiche Differenzierungen und Entwicklungen:
- Zwischen
städtischen und ländlichen Regionen besteht eine erhebliche Differenz
hinsichtlich der jugendlichen Bleibeorientierung. Sie ist bei den jungen
Leuten, die auf dem Land wohnen, deutlich ausgeprägter.
- Die
Ortsbindungs- resp. Wanderungsrate der Landjugendlichen ist zudem durch
eine relativ hohe Konstanz gekennzeichnet, jedenfalls für das vergangene
Jahrzehnt. Ein geringer Austausch hat lediglich stattgefunden zwischen den
Kategorien: ”Ich glaube, daß ich in einigen Jahren wegziehen werde” und:
”Nein, ich möchte auf jeden Fall wegziehen.”
Sucht man
nach Erklärungen für diese Befunde, dann ist es wenig hilfreich, in erster
Linie ein ökonomisches und kulturelles Stadt-Land-Gefälle dafür
verantwortlich machen. Denn bereits in älteren Jugendstudien konnte
nachgewiesen werden, daß Abwandern oder Bleiben als Orientierungsmuster
immer auch vom sozio-demographischen Status der Jugendlichen, von der
familiären Situation und nicht zuletzt von sogenannten
Gelegenheitsstrukturen abhängen, die sich vom Freizeitangebot über
Gruppenbindungen bis zu den unterschiedlichsten Formen sozialen
Engagements erstrecken können. Auch in unserer Studie bestätigt sich diese
Polyvalenz der Ortsbindung. Denn neben der regionsbezogenen Differenz bei
der Bleibe- resp. Mobilitätsorientierung, lassen sich auch signifikante
Unterschiede bezüglich des Geschlechts und Bildungsniveaus der Befragten
nachweisen. So sagen mehr Jungen als Mädchen, auch später einmal in ihrem
jetzigen Wohnort leben zu wollen. Allerdings ist die Geschlechterdifferenz
in diesem Falle vorrangig ein Stadt-Effekt. Das bedeutet, in ländlichen
Gebieten sind die Vorstellungen zur Ortsbindung zwischen männlichen und
weiblichen Jugendlichen weitestgehend deckungsgleich. Offensichtlich
bietet das dörfliche Leben heute für beide Geschlechter hinreichend
Chancen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung – ein Befund, den auch Helga
Huber in einer Jugendstudie in ländlichen Regionen Süddeutschlands
bestätigen kann: “Das Leben auf dem Dorf ist für die Mädchen attraktiver
geworden, ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume haben sich
erweitert, sie selbst sind selbständiger und selbstbewußter geworden.
Erhöhte Mobilität und die Möglichkeiten außerhalb des Dorfes zur Schule
und Arbeit zu gehen, befähigt sie heute mehr als je, ihre eigenen
Lebensentwürfe innerhalb der Dorfgemeinschaft zu verwirklichen.“
Allerdings
gibt es hierzu auch eine starke gegenläufige Entwicklung, die vor allem
mit dem Bildungsniveau zusammenhängt. Die Korrelation ist eindeutig: Je
höher der Bildungsstatus, desto geringer die Bleibeorientierung. Die
bildungsabhängige Mobilität ist dabei sowohl geschlechts- als auch
regionsübergreifend. Das heißt, ganz gleich ob Jungen oder Mädchen, Stadt-
oder Landjugendliche, was viele höher Gebildete verbindet, ist ein sehr
pragmatisches Verhältnis zwischen Ortsbindung und beruflicher Perspektive.
Auch wenn der Ortswechsel bisweilen schwerfällt und einem erzwungenen
Abschied gleichkommt, er entspricht den Erfordernissen der heutigen
Bildungs- und Berufswelt und wird vor allem von den Studierenden als
absolut notwendig wahrgenommen. Eine Gymnasiastin hat dazu gemeint:
“Ich weiß, daß ich aus Bitburg weg muß, wenn ich Ökotrophologie studieren
will und mal an einen guten Job rankommen möchte. Aber meine Wurzeln sind
hier und bleiben hier. Ich kann mir auch vorstellen, später wieder hierher
zurückzukommen“ (Julia, 16 Jahre). Letztlich zeigt sich auch am
residenziellen oder ortsgebundenen Mobilitätsverhalten der Jugendlichen,
welchen Stellenwert sie einer qualifizierten Berufsarbeit zuschreiben.
Auch in der Aussage einer Studentin, mit der wir in der Pilotphase
unseres Projektes ein längeres Gespräch geführt haben, ist dieser Aspekt
sehr klar und eindringlich formuliert: “Heute kommt kein Job auf dich
zu, du mußt auf den Job zugehen. Ob Praktikantenstelle oder Managerposten,
die Grundregel ist die gleiche: Dabeisein heißt Mobilsein“ (Carmen, 24
Jahre).
Weitere
Faktoren, die sich auf die Ortsbindung auswirken, sollen lediglich
kursorisch genannt werden. Während wir – im Unterschied zu anderen
Jugendstudien – für das Alter und die Cliquenbindung keine Abhängigkeiten
nachweisen konnten, besteht aber hinsichtlich anderer Aspekte eine
deutliche Einflußwirkung. Von der Frage, ob man an dem jetzigen Wohnort
auch geboren ist (Ortsansässigkeit) über das Verhältnis zu den Eltern, der
Erwerbstätigkeit und den eigenen Familienstand bis hin zu den
unterschiedlichsten freizeitlichen, sozialen und religiösen
Gemeinschaftsformen reicht das Spektrum der Faktoren, die auf die
Ortsbindung Einfluß nehmen. Gerade die auf den sozialen Nahraum
ausgerichteten gemeinschaftlichen Aktivitäten wecken und stärken bei einem
bestimmten Typus von Jugendlichen ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur
Wohnumgebung und werden regelrecht zu Generatoren einer wachsenden
Bleibeorientierung. Dabei betonen sie zudem ihre aktive und
eigenverantwortliche Rolle, wie die Antwortverteilung auf die Frage: “Ob
ich mich hier im Ort/der Stadt wohlfühle oder nicht, dafür bin ich auch
selbst verantwortlich“ unterstreicht.
Vier
von fünf Jugendlichen stimmen der Auffassung völlig oder doch eher zu, daß
persönliches Engagement unverzichtbar ist, um sich an seinem Wohnort
wohlzufühlen. Sich einbringen und Mitmachen werden von ihnen als
Handlungsziele bekundet, von denen eine starke Bindungs- und
Integrationskraft ausgeht. Hier deutet sich an, daß
Individualisierungsbestrebungen und Gemeinwesenorientierungen sich
keineswegs ausschließen müssen, sondern viele Jugendliche scheinen ganz
offensichtlich eine Grundhaltung auszubilden und darauf bezogen Strategien
zu entwickeln, die eine Verschränkung beider Orientierungsmuster erlauben.
Wie auch immer im einzelnen die subjektive Ausgestaltung sozialer
Zugehörigkeit und Verantwortungsübernahme aussieht, dieses Ergebnis
verdeutlicht, daß die in der öffentlichen Auseinandersetzung immer wieder
geäußerten Befürchtungen vom sozialen Kollaps als Folge einer
hedonistischen Ich-Orientierung in dieser extremen Form keine Entsprechung
im Jugendalltag und im jugendlichen Selbstverständnis haben.
Der
konstatierten Gemeinwesenorientierung korrespondiert – in ländlichen
Regionen im übrigen stärker als in der Stadt – aber nicht nur eine
wachsende Bleibeorientierung bei den Jugendlichen, sondern der
Herkunftsort stellt in ihrem Bewußtsein auch so etwas wie einen festen
Stützpunkt dar, den man nicht aufgeben möchte. Selbst wenn man ihn
aufgrund seines Bildungs- und Berufswegs verlassen muß, so bleiben viele
Jugendliche dennoch ihrer Heimatregion in besonderer Weise emotional und
sozial verbunden, wobei auch eine spätere Rückkehr nicht ausgeschlossen
wird. Bis dahin möchten vor allem die Landjugendlichen aber unbedingt in
ihrer dörflich-vertrauten Umgebung bleiben. Dies bedeutet jedoch kein
räumliches Einigeln oder Inseldasein, vielmehr erschließen sie sich durch
eine erhöhte Motorisierung auch regionale und städtische Lebensbereiche
und Institutionen. Beinah professionell organisierte Mitfahrgelegenheiten
und die tätige Mithilfe der Eltern garantieren eine Form von
Verkehrsmobilität, die Freizeit- und Kulturorte ebenso erreichbar machen
wie Schul-, Ausbildungs- und Berufsstätten.
IV.
Fazit: Das Projekt des “eigenen Lebens” gilt in Stadt und Land
gleichermaßen
Individualisierungsprozesse rücken angesichts zunehmender Wahlfreiheiten
das individuelle Tun und die Eigenverantwortung ins Zentrum der
Daseinsgestaltung. Daß diese Entwicklung für die heutigen Jugendlichen
weitreichende Konsequenzen für ihr Selbstverständnis und ihre
Zukunftsplanung hat, belegen unsere Ergebnisse nachdrücklich. Was jedoch
überrascht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich diesen
Herausforderungen stellen. Sie fühlen sich ”keineswegs durch die
Gespenster bedroht, die in den öffentlichen Debatten an die Wand gemalt
werden: Werteverfall und Ich-Sucht.”
Im
Gegenteil, sie nehmen die Herausforderungen polyvalenter Lebens- und
Handlungssituationen produktiv an und versuchen sich in dem neuen
Optionsraum möglichst originär – und vielfach auch originell –
einzurichten.
Auch wenn
dem räumlichen Umfeld nach wir vor eine prägende Kraft für die
Lebenswirklichkeit der heutigen jungen Generation zukommt, eines ist ganz
offensichtlich: Die Stereotypen von den ‘Landeiern’ und ‘Dorfdeppen’
gehören endgültig der Vergangenheit an. Heute leben Landjugendliche durch
die erhöhte Mobilität gleichsam in mehreren Welten, wohnen aber nur in
einer. Ihr Lebensstil und ihre Lebensphilosophie sind ein Indiz dafür, daß
es trotz weitreichender Globalisierungs- und Mediatisierungsprozesse nicht
zu einer Angleichung oder Nivellierung der regional differenzierten
Lebensbereiche gekommen ist. Es sind vielmehr gerade die Unterschiede, die
sie für die Jugendlichen aus dörflichen Milieus in besonderer Weise
attraktiv machen. Sie führen nämlich gleichzeitig eine teils städtische
und teils ländliche Existenzweise. Ihr Lebensentwurf zielt sowohl auf Enge
als auch auf Weite ab, wobei das Verhältnis zwischen beiden immer wieder
ausbalanciert werden muß. Daß dies nicht ohne Reibungsverluste geht, haben
die Jugendlichen durch Hinweise auf „den nervigen Klatsch und Tratsch“
(Susanne, 19 Jahrte), „die Vereinsmeierei“ (Sebastian, 17
Jahre), „den Standesdünkel der Alteingesessenen“ (Christian, 22
Jahre) oder „die Kleinkariertheit und Intoleranz“ (Julia, 20 Jahre)
in recht deutlichen Worten zum Ausdruck gebracht. Aber trotz dieser
repressiven Erfahrungen reagieren die meisten Landjugendlichen nicht mit
Distanzierung oder gar Abwanderung. Die Vorteile der ländlichen Lebenswelt
(Überschaubarkeit, Eingebundensein, Mitwirkungschancen, intakte Umwelt,
Brauchtumspflege) überwiegen ganz offensichtlich die Nachteile. Auch wer
aufgrund seines Bildungs- und Berufsweges den ländlichen Herkunftsort
bereits verlassen mußte oder davon ausgeht, daß dies in naher Zukunft der
Fall sein wird, die Bindung an ihn will man nicht aufgeben. Die
selbstbewußte und zeitüberdauernde lokale Zugehörigkeit, die eine
Fachhochschülerin aus einem kleinen Ort in der Eifel mit den Worten
umschrieben hat: “Da wo ich herkomme, das bleibt immer mein
Lebensmittelpunkt“ (Silvia, 24 Jahre), ist nicht zuletzt wohl auch
Ausdruck eines tiefen Heimatgefühls.
Zwar
unterscheiden sich die Gestaltungsspielräume für das eigene Leben zwischen
Stadt- und Landjugendlichen voneinander, aber nicht in einer defizitären
sondern eher evokatorischen Art und Weise. Denn trotz erheblicher
infrastruktureller Differenzen zwischen den einzelnen Regionen, bieten sie
genügend Raum und Herausforderung für individuelle Lebensentwürfe. Daß die
Jugendlichen dabei auch an deren Realisierung glauben, ist nicht zuletzt
an der positiven Grundstimmung ablesbar, mit der sie ihre Zukunft
einschätzen: 53% sind nämlich zukunftsfroh eingestellt, 44% zumindest
vorsichtig optimistisch und nur 3% pessimistisch. Allerdings sind diese
positiven Zukunftsvorstellungen sehr stark auf die individuelle
Lebensplanung gerichtet, wobei vor allem die enge Verschränkung zwischen
der allgemeinen Zukunftseinschätzung und der beruflichen Zukunftssicht
hervorzuheben ist. Denn je positiver die Zukunft insgesamt gesehen wird,
desto höher ist auch das Zutrauen, künftig mit den Herausforderungen der
Arbeitswelt zurechtzukommen. Wer von seinen Stärken überzeugt ist, d.h.
wer eine hohe interne Kontrollüberzeugung hat, der blickt auch sehr
zuversichtlich in seine private wie berufliche Zukunft. Eine Jugendliche
hat den Glauben an die Zukunft und an sich selbst auf die Formel: “Was
dir die Zukunft bringt, das steht nicht in den Sternen, sondern liegt in
deiner Hand“ (Ruth, 19 Jahre).
Dabei wird
der eigene Lebensentwurf und die eigene Lebenspraxis sehr stark als
Experiment gesehen, das es weniger normativ als vielmehr pragmatisch zu
bewältigen gilt. An die Stelle von kollektiven Gewißheiten, so könnte man
auch sagen, ist ein individueller Pragmatismus getreten. Wie sehr sich die
Vorstellung individualisierter und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung
bereits in den jugendlichen Habitus eingeschliffen hat, kommt am
markantesten vielleicht in der folgenden Aussage eines Schülers – Thomas,
16 Jahre – zum Ausdruck: ”Ich muß mein Leben selber meistern.”
Diese Aussage, die in gewisser Weise auch als Quintessenz unserer
Forschungen angesehen werden kann, hatte für uns aber auch die Funktion
eines Aufmerksamkeitsgenerators. Sie lenkte unseren Blick nochmals auf
einen Wesenszug der heutigen Jugendgeneration: Selbst-Gestaltung. Aber wir
waren durch diese Aussage auch neugierig geworden und wollten genauer
wissen, was die Jugendlichen denn im einzelnen darunter verstehen. Dazu
baten wir eine größere Gruppe, einen kleinen Essay zu schreiben, der unter
diesem Oberthema stand. Wir waren überwältigt von der Offenheit und
Differenziertheit, mit der die Jugendlichen hier zu Werke gingen.
Aus
mehr als 200 Essays, die im übrigen eine wahre Fundgrube für biographie-
und identitätstheoretische Studien darstellen, ist abschließend der Essay
einer 15jährigen (Esther) zitiert, der als Sinn- und Spiegelbild für das
Selbstverständnis und die Zukunftssicht der heutigen jungen Generation
angesehen werden kann:
“Im Moment
sind mir ganz sicher meine Freunde wichtig. Ich denke, ohne Freunde ist
das Leben ziemlich langweilig, und man ist allein. Meine Familie ist
allerdings das Wichtigste, das ich besitze. In meiner Familie fühle ich
mich “beschützt“ und nicht allein! Mir ist im Moment auch noch wichtig,
daß ich die Schule abschließe, da ich denke, daß mein Abschluß meine
Zukunft ziemlich stark beeinflussen wird.
Natürlich
ist es auch wichtig, ob ich gesund bin. Ich bin froh darüber, daß ich
nicht in einer großen Stadt wohne, sondern in einem kleineren Ort, denn da
ist die Natur noch nicht so zerstört.
Ich denke
öfters über meine Zukunft nach, was ich werden will, wie ich leben will
usw. Ich wünsche mir für meine Zukunft, daß ich gesund bin und nicht
alleine leben muß. Ich habe ziemlich viel mit anderen Menschen zu tun, in
meiner Straße, in verschiedenen Jugendgruppen und im Sport, und deshalb
kann ich mir nicht vorstellen, einmal ganz alleine zu leben. Am liebsten
würde ich auf einem großen alten Bauernhof leben, wo ich meine eigene
Tierarztpraxis aufbauen könnte. Ich würde gerne einen ganz lieben Mann
haben und irgendwann auch ganz sicher Kinder.
Ich hoffe,
daß in der Zukunft kein Unterschied mehr zwischen Menschen gemacht wird –
ob sie schwarz oder weiß sind, Ausländer oder Einheimische –, sondern daß
alle gleich behandelt werden. Außerdem hoffe ich, daß die Natur erhalten
bleibt und daß die Umwelt gerettet wird und die Ozon-Schicht nicht noch
mehr kaputtgeht durch Abgase und Umweltschäden. Ich wünsche mir auch in
der Zukunft Freunde, mit denen ich über alles reden kann und die mich
verstehen. Ich möchte auch später noch ein gutes Verhältnis zu meinen
Eltern haben und mit ihnen klarkommen.
Was ich in
meiner Zukunft befürchte ist, daß alles eigentlich ganz anders wird, wie
ich mir es vorstelle. Daß ich keinen Arbeitsplatz habe, krank bin, keine
Freunde habe, falsche Entscheidungen treffe, was sich wahrscheinlich nicht
immer vermeiden läßt, und die Umwelt zerstört wird.“
Ursula Henz/Ineke Maas, Chancengleichheit durch die Bildungsexpansion?
in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47 (1995)
1, S. 627. Auch die Ergebnisse des gesamtdeutschen DJI-Jugendsurveys
von 1997 weisen deutliche regionale Unterschiede bei den
Bildungsabschlüssen aus, wobei hier aus Vergleichsgründen nur auf die
Ergebnisse in den alten Bundesländern Bezug genommen wird: Hauptschule
(Kleinstadt/Land: 27%; Mittelstadt: 19%; Großstadt: 17%), Mittlere
Reife (Kleinstadt/Land: 41%; Mittelstadt: 31%; Großstadt: 27%), (Fach-)Abitur
(Kleinstadt/Land: 32%; Mittelstadt: 50%; Großstadt: 56%); vgl. J.
Achatz (Anm. 4) S. 46.
Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer, Die Lage ist hoffnungslos, aber
nicht ernst! (Erwerbs-)Probleme junger Leute heute und die anderen
Welten von Jugendlichen, in: Robert Hettlage/Ludgera Vogt (Hrsg.),
Identitäten in der modernen Welt, Wiesbaden 2000, S. 375.
Claus J. Tully, Mobilität Jugendlicher am Lande und in der Stadt, in:
Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes
Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), U.MOVE. Jugend und Mobilität, Dortmund
2000, S. 18.
Sonja Banze, “Scheitert gerade eine ganze Generation, Herr Beck?”
Interview mit dem Soziologen Ulrich Beck, in: Welt am Sonntag vom 1.
Juli 2001, S. 58.
Yvonne Fritzsche, Moderne Orientierungsmuster: Inflation am
‘Wertehimmel’?, in: Deutsche Shell (Anm. 5) S. 115.
Vgl. Y. Fritzsche (Anm. 20) S. 107.
Allerdings ist diese degressive Entwicklung der Kirchenbindung kein
jugendspezifisches Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches, wie
neuere Untersuchungen belegen: “Die Zeitreihendaten zur Kirchlichkeit
verweisen darauf, (...) daß diese rückläufigen Entwicklungen sich als
Trend erweisen, der nicht nur generationell, sondern auch in
verschiedenen Altersgruppen kontinuierlich seit den siebziger Jahren
abläuft. So hat sich die Kirchgangshäufigkeit der westdeutschen
Bevölkerung von einem Durchschnitt von ca. 18 Gottesdienstbesuchen im
Jahr 1980 auf ungefähr 12 Besuche 1998 reduziert. Diese Reduktion wird
von allen Altersgruppen gleichermaßen getragen. (...) Dieselbe
Entwicklung findet sich, wenn man das Vertrauen in die Institution
Kirche im Zeitverlauf untersucht. Das Vertrauen in die Kirche geht,
trotz einiger kleinerer periodischer Schwankungen, ebenfalls seit
geraumer Zeit zurück” (Detlef Pollack/Gert Pickel, Individualisierung
und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in:
Zeitschrift für Soziologie, 28 (1999) 6, S. 474).
Artuur Fischer, Jugend und Politik, in: Deutsche Shell (Anm. 5) S.
262. Vgl. hierzu an Forschungsbefunden aus der jüngeren Vergangenheit
auch Helga Theunert/Bernd Schorb, Nicht desinteressiert, aber eigene
Interessen, in: Medien und Erziehung, 44 (2000) 4, S. 219-228; Martina
Gille/Winfried Krüger (Hrsg.), Unzufriedene Demokraten. Politische
Orientierungen der 16- bis 29jährigen im vereinigten Dutschland,
Opladen 2000; Sibylle Reinhardt/Frank Tillmann, Politische
Orientierungen Jugendlicher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B
45/2001, S. 3-13.
Vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg), Generationenkonflikt
und Generationenbündnis in der Bürgergesellschaft, Stuttgart 1999, S.
55f.
Kurt Möller, Politische Orientierungen von Jugendlichen, in: U.
Sander/R. Vollbrecht (Anm. 5) S. 272.
Roland Eckert, Mehr Autorität als Antwort auf Gewalt?, in: Das
Parlament vom 16. Dezember 1994, S. 16. Ob Jugendliche zum Vorreiter
für ein neues, ganzheitliches Politikverständnis werden, bleibt
abzuwarten. Erste Anzeichen für eine „Politik der Lebensführung“ sind
aber unübersehbar. Vgl. Klaus Hurrelmann, Warum die junge Generation
stärker partizipieren muss, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B
44/2001, S. 3-7; Waldemar Vogelgesang, Jugendliche sind nicht
unpolitisch, sondern anders politisch, Trier 2001 (Typoskript).
Helga Huber, Mädchen und junge Frauen in der Dorföffentlichkeit, in:
Lothar Böhnisch u.a. (Hrsg.), Ländliche Lebenswelten, München 1991, S.
245.
Ulrich Beck, Das Zeitalter des ”eigenen Lebens”, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 29/2001, S. 6.
Zu großem Dank verpflichtet sind wir den beiden Pädagogen Heinfried
Carduck und Bernadette Faber, die für uns die Essay-Befragung
organisiert haben. Quer durch alle Altersstufen ist es ihnen gelungen,
Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme zu motivieren. Ihrem
pädagogischen Geschick und Fingerspitzengefühl ist es zu verdanken,
daß diese Selbstzeugnisse über sich verfaßt haben, deren Originalität
und Authentizität uns dazu veranlaßt hat, sie im Rahmen eines
Anschlußprojekts (Jugendliche Selbstbeschreibungen) noch
eingehender aufzuarbeiten und auszuwerten.
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