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Hauptergebnisse
 

1. (Aus-)Bildung und Beruf

Der Schulbesuch mit anschließendem Besuch allgemeinbildender und berufsbildender Ausbildungsstätten ist zum beherrschenden Strukturmerkmal des Jugendalters geworden und verzögert gleichzeitig durch seine stetige Ausdehnung den Eintritt ins Berufsleben. Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen unserer Studie wider, denn über 70% der Jugendlichen waren zum Zeitpunkt der Befragung noch in der Ausbildung. Hochgerechnet und etwas allgemeiner betrachtet bedeutet dies, daß heute die Hälfte der Jugendgeneration schon etwa ein Viertel ihrer Lebenszeit in Bildungseinrichtungen verbringt. Profitiert haben von der Verlängerung der Ausbildungszeit und der Ausweitung des Bildungssystems vor allem die Mädchen, denn sie erwerben heute im Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse als ihre männlichen Altersgenossen und können somit zu Recht als Gewinner der Bildungsexpansion bezeichnet werden. Nach wie vor große Bildungsunterschiede bestehen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten. Zwar präferiert die Mehrzahl der Eltern in Deutschland einen hohen Abschluß für ihre Kinder, aber die vorhandenen Unterschiede zwischen den Herkunftsmilieus lösen sich dadurch nicht auf. Denn nur 28% der Jugendlichen, deren Vater einen niedrigen Bildungsabschluß hatte, erzielten selbst einen hohen (Abitur, Studium), im Vergleich zu 43% ihrer Altersgenossen, deren Vater einen mittleren oder 75%, deren Vater selbst einen hohen hatte. Bildung wird nach wie vor ‘vererbt’ und dies trotz einer deutlichen gestiegenen intergenerationalen Bildungsmobilität.[1]

Neben den Schichtdisparitäten sind wir noch auf weitere (aus-)bildungsbezogene Friktionen gestoßen, wie sie in ähnlicher Weise auch in der neueren Jugend- und Bildungsforschung immer wieder ausgewiesen werden:

– Ein hoher Bildungsabschluß ist keineswegs eine Garantie für den gewünschten Ausbildungs- oder Arbeitsplatz (Qualifikationsparadox).

– Je niedriger die Wertigkeit des Schulabschlusses, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, auf Einfacharbeitsplätzen oder in der Arbeitslosigkeit zu landen (Verdrängungswettbewerb).

– Der Trend hin zu einer längeren und höheren Schulbildung ist begleitet von einem Anstieg des Vorbildungsniveaus in der beruflichen Ausbildung (Entwertung von Bildungszertifikaten).

– Die geschlechtstypische Zuweisung von Ausbildungsplätzen führt zur Tradierung von frauen- beziehungsweise männerspezifischen Berufsfeldern (feminisation process).

– Jugendliche Ausländer und (verstärkt) Aussiedler sind im Schul- und Berufssystem gegenüber den deutschen Jugendlichen erheblich benachteiligt (Fremdheit als Desintegrationsfaktor).

Danach besteht zwischen Jugendlichen, die aus ländlichen Regionen stammen, und ihren in der Stadt wohnenden Altersgenossen ein starkes Bildungsgefälle. Am massivsten zeigt sich dies bei denjenigen, die über ein hohes Bildungsniveau verfügen. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß es auch eine ausgeprägte Bildungswanderung aus den ländlichen Regionen in das urbane Oberzentrum gibt. So nimmt etwa die Hälfte der Jugendlichen aus dem Umland, die ein Studium beginnt, dies in Trier auf. Dieser Faktor minimiert zwar das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land, gleicht es aber nicht völlig aus. Vor allem die Differenz beim mittleren Bildungsniveau (Stadt: 23%; Land: 41%) bleibt erklärungsbedürftig.

Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Im Vergleich zu den Landregionen dürften für das Stadtgebiet neben dem bereits angesprochenen wachsenden Anteil von Studierenden auch das größere Angebot an weiterführenden Schulen und die bessere Verkehrsinfrastruktur eine wichtige Rolle spielen. Ebenso finden hoch qualifizierte Arbeitskräfte hier eher adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten. Diese Struktureffekte sind aber noch um einen wichti­gen Aspekt zu ergänzen: den Einfluß des Bildungsniveaus der Eltern auf den Bildungsgrad ihrer Kinder. Vor allem der enge Zusammenhang zwischen dem niedrigen Bildungsstatus des Vaters und dem entsprechenden Bildungsniveau des Kindes wirkt bezogen auf ländliche Regionen als Co-Faktor, denn hier ist die untere Bildungsschicht der Eltern deutlich überrepräsentiert. Auch unsere Studie bestätigt somit einen allgemeinen Befund der Bildungs(ungleichheits)forschung: “Je größer der Wohnort ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für den Besuch einer weiterführenden Schule bzw. des Gymnasiums. Dies gilt für Jungen und Mädchen gleichermaßen.”[3]

Auf eine interessante Entwicklung ist noch hinzuweisen. Neben der ‘verordneten’ Bildung gibt es einen starken Trend zur freiwilligen Selbstqualifizierung. Sichtbar wird dies sowohl an einem besonderen Lernhabitus als auch in der Kumulierung von Ausbildungsgängen (Stichwort: Doppelqualifikation). Immer mehr Jugendliche erkennen offensichtlich die Notwendigkeit von zukunftsorientierten Anpassungs- und Wissenserwerbsstrategien, um vor allem die Umstrukturierungen in der Arbeitswelt erfolgreicher meistern zu können. Auch wenn diese individualisierten Lern- und Leistungsformen eng mit dem formalen Bildungsniveau zusammenhängen und damit Marginalisierungstendenzen für die Niedrigqualifizierten sich noch verschärfen dürften, sie sind auch ein Beleg dafür, welchen Stellenwert die heutige Jugend der Berufstätigkeit zumißt. Oder wie dies ein 16jähriger Jugendlicher (Markus) so prägnant formuliert hat: “Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.”

Die hier zum Ausdruck gebrachte sachliche und nüchterne Einschätzung von Berufsarbeit repräsentiert den Kern eines Selbstverständnisses der heutigen jungen Generation, das sich durch Realitätsbezug und Selbstverantwortung auszeichnet. In der neueren Jugendforschung wird aus diesem Grund der vermehrt zu beobachtende Arbeitspragmatismus der Jugendlichen als konsequente Folge eines allgemeinen Lebenspragmatismus gedeutet. Gemeint ist damit, daß der Entgrenzung und Optionalisierung heutiger Lebensverhältnisse eine Individualisierung und Flexibilisierung der Jugendlichen Erwerbsbiographie korrespondiert. Auch wenn die Einschätzungen von Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer bisweilen noch einen starken Szenariencharakter erkennen lassen, ihre Grundaussage erscheint uns nicht nur absolut zutreffend zu sein, sondern auch einen Eckpfeiler künftiger Jugendforschung zu markieren: “Nach dem Ende der soziokulturellen Normalität von Normalerwerbsbiographien wird so etwas wie Lebenserfolg vermutlich unabdingbar mit der individuellen Fähigkeit verbunden sein zum flexiblen Zusammenbasteln der je eigenen Existenz aus je (zufällig) zuhandenen beziehungsweise sich eröffnenden (Erwerbs-)Chancen. (...) Die Pioniere einer anderen Moderne werden (...) nicht Spezialisten oder gar Hyper-Spezialisten sein, sondern Träger von (und Spieler mit) so genannten Kernkompetenzen und Basisqualifikationen – d.h. von (beziehungsweise mit) Fähigkeiten zur Strukturerfassung, von (beziehungsweise mit) Kenntnissen abstrakter Verfahrenstechniken und von (beziehungsweise mit) Strategien der Erfassung und Entsprechung von in kleinen sozialen Kontexten je spezifischen Relevanzen.”[4]

 

2. Freizeit und Medien

Um Entwicklungen im Freizeitbereich in den letzten knapp zwei Jahrzehnten genauer fassen zu können, werden zu Vergleichszwecken Ergebnisse aus den beiden Vorgängerstudien Jugend und Neue Medien von 1985 und der Westeifelstudie von 1991 in die Ergebnisdarstellung miteinbezogen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit beschränken wir uns dabei auf drei für den jugendlichen Freizeitraum charakteristische Aktivitäten: Geselligkeit, Sport und kulturelle Betätigungen.

Dabei zeigt sich, daß die höchste Priorität im Freizeitverhalten ganz eindeutig gesellige Aktivitäten im Kontext von Gleichaltrigen haben. Das Treffen von Freunden, das gemeinsame Ausgehen in Kneipen und Diskotheken oder Kinobesuche, für alle diese Unternehmungen, die Jugendliche gern unter dem Oberbegriff ‘weggehen’ zusammenfassen, gilt: Man will mit Altersgleichen zusammenkommen, um Bekanntschaften zu machen, Freundschaften zu pflegen, gemeinsam Spaß zu haben. Ob Stadt oder Land, Mitte der 80er Jahre oder heute, das Zusammensein mit Freunden und die Spaßunternehmungen in einer Jugendclique prägen die Freizeit der Heranwachsenden. Für ihre Cliquen wenden sie dabei auch einen erheblichen Teil ihrer freien Zeit auf. Zudem haben sie einen starken Einfluß auf das Konsumverhalten, wobei dem neuesten Handy-, CD-Player- oder Jeans-Modell in vielen Fällen die Bedeutung von demonstrativen Status- und Abgrenzungsszeichen zukommt, wie in den Gesprächen mit den Jugendlichen immer wieder herausgestellt wurde. Um nur ein Beispiel aus einer Fülle von sinngemäß ähnlichen Äußerungen anzuführen: “Medien und Klamotten sind einfach hip, ein Muß, Maßstab” (Claire, 16 Jahre). Im freizeitlichen Peer- oder Gruppenbezug manifestiert sich vielfach auch eine ausgeprägte Suche nach intensiver sinnlicher Erfahrung und körperbetonter Selbstdarstellung, verbunden mit einer hohen Bewegungsmobilität, die sich teilweise zu einem wahren Kult der Motorisierung verdichtet.

Während die Freundes- und Cliquenrate eine hohe Konstanz in der Zeitdimension aufweist, unterliegt das Interesse an sportlichen Aktivitäten größeren Schwankungen. Dabei fällt auf, jedenfalls ist dies der erste Eindruck, daß die Popularität des Sports als freizeitliches Handlungsfeld abgenommen hat. Diese Aussage ist allerdings zu relativieren, denn im Verständnis der Jugendlichen ist Sporttreiben immer noch sehr stark institutionell geprägt. Viele neuere Sportarten wie Skaten, Streetball, Spinning, Squash u.a., die nicht im Rahmen von Vereinen, sondern in Form selbstorganisierter oder kommerzialisierter Freizeit stattfinden, werden von ihnen nicht zum klassischen Sportensemble gerechnet. Etwas mehr als ein Fünftel der Jugendlichen (22%) betreibt diese Spaßsportarten, so daß insgesamt die Sportlerrate eher zugenommen hat.

Auch wenn Fun- und Vereinssport bisweilen in eine harte Konkurrenzsituation geraten können, die Mehrzahl der Jugendlichen (63%) verbringt immer noch einen nicht unerheblichen Teil ihrer Freizeit in Sportvereinen, Hilfsorganisationen oder anderen vereinsähnlichen Institutionen, wobei fast ein Viertel (23%) gleichzeitig Mitglied in mehreren Einrichtungen ist. Der bei weitem beliebteste Typus ist aber zweifelsohne der Sportverein. Mit deutlichem Abstand folgen Mitgliedschaften in freiwilligen Hilfsorganisationen, Musikvereinen oder kirchlichen Gruppen. Die geringste Resonanz finden Jugendverbände, Fanclubs und politische Jugendorganisationen. Bezogen auf die Gesamtmitgliedschaft in Freizeiteinrichtungen ist auffällig, daß der Anteil der Jungen (72%) höher ist als derjenige der Mädchen (55%) und daß mit zunehmendem Alter das Engagement zurückgeht. Auch der Wohnort und die Region nehmen Einfluß auf die Vereinszugehörigkeit. Es zeigt sich nämlich, daß besonders im ländlichen Raum institutionalisierte Formen der Freizeit eine wichtige Rolle spielen (Land: 66%; Stadt: 56%). Viele Landjugendliche sind – auch aufgrund ihrer Mehrfachmitgliedschaften – im Wortsinne Vereinsmeier. Die Gründe hierfür liegen zum einen im geringeren Angebot an anderen Freizeitmöglichkeiten, zum anderen kommt Vereinen – gerade im dörflichen Umfeld – auch eine wichtige lokale Integrationsfunktion zu. Denn hier “hat es gleichsam Tradition,” so konstatiert auch Claus J. Tully, “im Verein mitzutun, er ist Moment sozialer Konformität.”[5]

Kaum verändert hat sich zu den drei Erhebungszeitpunkten der Anteil der Jugendlichen, die künstlerisch-musische Betätigungen in ihrer Freizeit ausüben. Auch haben wir keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß es bei den schon als traditionell geltenden Aktivitäten in diesem Bereich, etwa Musizieren, Malen, Basteln, eine Verschiebung oder Umgruppierung gegeben hat. Etwa ein Viertel der Jugendlichen, meist Mädchen und junge Frauen mit einem höheren Bildungsniveau, sind in dieser Freizeitkategorie zu finden. Ein kleiner Teil von meist männlichen Jugendlichen träumt auch von einer Musiker- oder DJ-Karriere. Inwieweit sie dabei von dem Trierer Schlagerbarden Guildo Horn beeinflußt sind, ist nicht näher untersucht worden. Daß jedoch der Gewinn des regionalen Rockförderpreises – damals noch als Mitglied der Band Eve and the Handymen – den Startpunkt einer veritablen Künstlerlaufbahn sein kann, hat der Meister von der Mosel, wie ihn seine Fans nennen, eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Was sich an der Fangemeinde des ‘Meisters’ andeutet, ist durchaus verallgemeinerbar: Innerhalb des Freizeitraums nehmen Medien, Stars und Idole eine immer wichtigere Funktion ein. Ja man kann sagen, Jugendliche sind heute wahre Medienfreaks: Sie nutzen (fast) alle Medien (fast) überall und zu (fast) allen Tageszeiten. Medien stehen also keineswegs in einem Verdrängungs- und Substitutionsverhältnis zueinander, wie oft behauptet wird, sondern sie sind untereinander durchaus anschlußfähig und auch miteinander kombinierbar. Auch die immer wieder kolportierte These, wonach vor allem Computer und Internet zum Bedeutungsverlust der Printmedien führen würden, ist nicht haltbar. Im Gegenteil, wenn überhaupt eine mediale Fokussierung zu beobachten ist, besteht sie zwischen diesen Medientypen. Ansonsten ist für den Umgang der Jugendlichen mit den unterschiedlichsten Medien viel eher eine auf Komplementarität ausgerichtete Bastel- oder Collagenmentalität bezeichnend.

Wie sieht nun die jugendliche Medienfaszination im einzelnen aus? Geordnet nach der regelmäßigen Nutzung, zeigt sich folgendes Präferenzmuster: An erster Stelle steht das ‘Fernsehen’ (88%), dicht gefolgt von ‘CDs/Schallplatten’ (80%) und ‘Radio’ (80%). Printmedien wie ‘Zeitungen’ (48%), ‘Bücher’ (27%) und ‘Zeitschriften’ (21%) folgen mit einigem Abstand. Auch ‘Computer’ (38%) und ‘Internet’ (15%) haben mittlerweile ihren festen Platz im täglichen Medienpotpourri der Jugendlichen. Auf ‘Kino’ (3%) und ‘Comics’ (2%) entfallen dagegen die wenigsten Nennungen. Hier ist jedoch eine Differenzierung notwendig. Erweitert man nämlich das Nutzungsspektrum bis hin zur Antwortkategorie ‘einmal pro Monat/seltener’, dann steigt beispielsweise die Rate der jugendlichen Internetnutzer auf 48% und die der Kinogänger sogar auf 95%. Was hier sichtbar wird, sind zum einen medienspezifische Nutzungsfrequenzen und -intensitäten, zum anderen aber auch mediale Gewohnheitsbildungen und Kontinuitätsvorstellungen, die an unterschiedliche Zeitrhythmen gekoppelt sind.

Unbestreitbar gilt aber: Fernsehen und Musikhören sind seit Anfang der 90er Jahre die unangefochtenen Spitzenreiter im jugendlichen Medienensemble. Die Nutzung von Printmedien ist in diesem Zeitraum dagegen leicht zurückgegangen. Zu den größten Verlieren, jedenfalls hinsichtlich der Intensität der Nutzung, zählt jedoch das Medium Video, zu den größten Gewinnern Computer und Internet. Denn vier Fünftel der Jugendlichen verfügen derzeit bereits über Erfahrung im Umgang mit dem PC und immerhin fast die Hälfte mit Netzkommunikation. Auffällig sind dabei die zum Teil sehr großen Nutzungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen, Hoch- und Niedriggebildeten und Stadt- und Landjugendlichen. Selbst wenn das regionale Gefälle bei der Nutzung der neuen Medien zu einem nicht unerheblichen Teil auf die bereits erwähnte Bildungsungleichheit zurückgeführt werden kann, so erweist sich insgesamt der ländliche Raum doch als erheblicher Benachteiligungsfaktor. Vor allem die jugendlichen Surfer sind hier noch deutlich unterrepräsentiert. Während in der Stadt sechs von zehn das Internet nutzen, ist es auf dem Land nicht einmal jeder Vierte.

Daß gerade in ländlichen Gebieten lebende jugendliche Hauptschüler die unfreiwillige Computer- und Internetabstinenz als enttäuschend und resignativ erleben, ist des öfteren in sehr deutlichen Worten angesprochen worden: “An uns ist der Internetzug doch längst vorbeigefahren” (Heiko, 15 Jahre). Oder: “Wir haben an unserer Schule keine Computer. Wir werden auch keine bekommen oder nur Müll. Verdienen wir nichts Besseres (Sabine, 15 Jahre)? Auch wenn der Erwerb entsprechender Medienkompetenzen zu einer neuen, breitgefächerten Bildungsoffensive geführt hat, so profitieren von entsprechenden Angeboten und Maßnahmen nicht alle Jugendlichen in gleicher Weise. Im Gegenteil, aufgrund unterschiedlicher Ressourcen und Zugangschancen zu den neuen Medien ist zu befürchten, daß hier neue soziale Verwerfungen entstehen resp. vorhandene vertieft werden. Ob die fortschreitende Mediatisierung der Lebenswelt letztlich zur Ausbildung einer “medialen Klassengesellschaft”[6] führt, in der sich zwei antagonistische Informationsklassen – die Informationsreichen und die Informationsarmen – mit höchst unterschiedlichen Teilhabe- und Selbstverwirklichungschancen gegenüberstehen, bleibt abzuwarten. Entsprechende Tendenzen sind jedoch – auch unter den Jugendlichen – unübersehbar.

 

3. Wertorientierungen und Lebensziele

“Eine Vorlage für die eigene Existenzform gibt es nicht mehr. (...) Und geblieben ist die Absicht dieser Generation, sich zu erproben und das eigene Leben und die eigene Arbeit als Experiment zu begreifen. Dieses Maß an Individualisierung ist verdammt neu.”[7] Unter diesen Bedingungen sind auch – oder gerade – die heutigen Jugendlichen nicht mehr in einem homogenen sozialen Raum verortet, sondern sie sind sozio-kulturelle Grenzgänger, die höchst unterschiedliche Lebensbereiche koordinieren und integrieren müssen, in denen jeweils andere Anforderungen, Regeln und Normen gelten. Wie gehen sie aber mit den Herausforderungen der enttraditionalisierten, offenen Gesellschaft der Gegenwart um?

Unsere Ergebnisse vermitteln hier ein eindeutiges Bild: Die Wertorientierungen und Grundüberzeugungen der Jugendlichen sind gleichsam ein Spiegelbild dieser Situation. Dies ist zunächst einmal daran ablesbar, in welch hohem Maße die unterschiedlichen Wertvorstellungen bei den Jugendlichen auf Akzeptanz stoßen. Ob es sich dabei um individuelle (‘sich selbst verwirklichen’) oder soziale (‘anderen Menschen helfen’) Orientierungen handelt, um materielle (‘ein hohes Einkommen anstreben’) oder immaterielle (‘unabhängig sein’), aktivische (‘etwas leisten’) oder eher passivische (‘das Leben genießen’), um risikofreudige (‘aufregendes, spannendes Leben führen’) oder risikolose (‘auf Sicherheit bedacht sein’), um konventionelle (‘pflichtbewußt sein’) oder unkonventionelle (‘kritisch sein’) Vorstellungen, wir finden sie vielfach gleichzeitig im jugendlichen Wertekanon präsent, wenn auch nicht gleichrangig. Nicht Homogenität scheint für ihr heutiges Werteverständnis charakteristisch zu sein, sondern Heterogenität. Also: Patchwork-Muster auch bei ihren Leitvorstellungen und Lebenszielen?

Das jugendliche Wertensemble ist nicht nivelliert, sondern es kennt sehr wohl Abstufungen. Dabei sind es vor allem die individuellen Werte, welche die Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Einzelnen betonen, die Vorrang genießen vor Orientierungen und Handlungsmustern, die sich auf das gemeinschaftliche Miteinander oder die materielle Sicherheit beziehen. Aber die Differenzen sind nicht so groß, daß sie auf ein ‘entweder oder’ hinauslaufen, vielmehr scheint für die jugendliche Wertsicht ein ‘sowohl als auch’ bezeichnend zu sein. Es können somit für ihr Werteverständnis zwei parallel verlaufende Entwicklungen konstatiert werden: eine Wertesynthese und eine Werteverschiebung. Dies belegt auch die Antwortverteilung des von uns gebildeten hochaggregierten Werteindex.

Fast die Hälfte (47%) der befragten Jugendlichen fällt in die Kategorie Mischtyp, d.h. sie repräsentieren in beinah schon paritätischer Form eine koinzidente Wertauffassung. Aber auch ein weiterer Trend ist offenkundig: Selbstentfaltungswerte haben einen höheren Kurswert als Pflicht- und Akzeptanzwerte, wie die Anteilsdifferenz zeigt (Selbstentfaltung: 36%; Pflicht/Akzeptanz: 17%). Da diese beiden Wertebereiche der Konzeptualisierung von postmaterialistischen und materialistischen Wertedimensionen Ronald Ingleharts[8] sehr nahe kommen, läßt sich hier auch ein Wertewandel feststellen. Zwar hat unter den Jugendlichen keine Werterevolution stattgefunden, wie der amerikanische Werteforscher prognostizierte, aber doch eine deutliche Werteverschiebung zu postmaterialistischen Orientierungen.

So gesehen ist die These von der Pluralisierung der Lebensstile für die heutige Jugend zu erweitern resp. zu ergänzen um eine Pluralisierung der Wertemuster. Das bedeutet, mehrschichtig und mehrgleisig ist nicht nur ihre Biographie – und zwar von den Partnerschaftsmodellen über die Berufsrollen bis hin zu den Wohnformen –, sondern mehrdimensional sind auch ihre Ziele, Orientierungen und Wertentscheidungen. Patchwork-Identität und Patchwork-Werte fallen mehr und mehr in eins. Insofern ist für die heutige Jugend eine spezifische Form von Wertemischung charakteristisch. Und es sind vor allem die Jugendlichen selbst, die dafür nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihren Selbstthematisierungen genügend Anschauungsmaterial liefern, wie die folgende Aussagensynopse anschaulich belegt:

“Welche Werte und Ziele für mich wichtig sind? Das ist schwer auf einen Punkt zu bringen, weil es ganz verschiedene sind. Vor allem zählt für mich Ehrlichkeit und Treue. Natürlich auch Spaß, was erleben. Mein Ziel ist es auch, meine Träume vom Leben und im Leben zu verwirklichen. Familie, Haus, Kinder, davon träumt wohl jeder. Davon kann ich jedoch nicht ausgehen. Ich glaube, mein Ziel im Leben habe ich dann erreicht, wenn ich alle Situationen, die einem das Leben so stellt, meistere und mit mir selbst zufrieden bin” (Kerstin, 16 Jahre).

“Mir persönlich ist es wichtig, mir selber treu zu bleiben, bei allem was mir im Leben widerfahren wird. Mein Ziel ist es, ein glückliches und erfülltes Leben zu haben. Außerdem ist Gesundheit und ein Arbeitsplatz, der mir Spaß macht, wichtig. Man sollte offen gegenüber allem Neuen sein und sich nicht verschließen. Man sollte ehrlich sein und andere Menschen akzeptieren und keinen Druck auf sie ausüben. Erfolg im Beruf ist auch wichtig, damit man mit sich selbst zufrieden ist” (Jürgen, 18 Jahre).

“Dinge, die mir im Leben wichtig sind: gesicherte finanzielle Zukunft, guter Beruf, Familie, Ehrlichkeit, Treue, Vertrauen, Gesundheit, Glück im Leben haben, wahre Freunde, die mich so akzeptieren, wie ich bin, auch wenn ich mich verändere. Mein Ziel: das zu erreichen, was ich mir vornehme und mein Leben so zu leben, wie ich es mir vorstelle” (Sigrit, 16 Jahre).

Diese Aussagen lassen keinen Zweifel daran: Lebensziele und Grundüberzeugungen haben für Jugendliche eine große Bedeutung. Ihr Wertespektrum umfaßt dabei eine Vielzahl von materiellen und immateriellen Aspekten, die sie als wichtig für ihr Leben ansehen. Auch wenn Werteinstellungen nicht mit Werthandlungen gleichgesetzt werden dürfen, eine wichtige Orientierungsfunktion kommt ihnen in jedem Fall zu. Allerdings ist die Orientierungsleistung von Werten – und dies ist ein Wesenszug der heutigen Jugendgeneration – in hohem Maße kontextgebunden, d.h. auf die aktuelle Gesellschaftslage und vor allem auf die eigene Lebenssituation zugeschnitten. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der sozio-demographischen Verankerung und Differenzierung der Wertestruktur der Jugendlichen.

Während sich hinsichtlich des Geschlechts keine nennenswerten Unterschiede nachweisen lassen, variiert der Wertekompaß in Abhängigkeit vom Alter und Bildungsstand der Jugendlichen doch recht deutlich. Je älter sie sind und je besser gebildet, desto höher ist ihre Zustimmung zu Selbstentfaltungswerten. Neben Alter und Bildung nimmt auch die regionale Herkunft massiv Einfluß auf ihre Werturteile. So finden Selbstverwirklichungswerte mit einer Rate von 47% die absolut höchste Zustimmung unter den Befragten, die in der Stadt leben. Wer dagegen auf dem Land wohnt, hat nach wie vor eine starke traditions- und sicherheitsorientierte Einstellung. Allerdings zeigt die relativ hohe Mischtyp-Quote von 50%, daß ganz offensichtlich auch auf dem Land die Wertvorstellungen in Bewegung geraten sind, jedoch weniger im Sinne einer Wertverschiebung als vielmehr einer Wertanlagerung. Der behauptete Wandel von Lebenszielen und Werteinstellungen unter den Jugendlichen findet, so die Quintessenz, primär in städtischen Milieus statt – eine Beobachtung, die auch durch die Shell-Jugendstudie 2000 bestätigt wird: “Es fällt generell auf, daß die klassischen Eckpfeiler biographischer Orientierung, nämlich Berufsorientierung und Familienorientierung, in ländlichen Gegenden einen höheren Stellenwert besitzen als in Mittel- und Großstädten. (...) Sollte das ein Indiz dafür sein, daß die Neuerungen für den Lebensplan und die Impulse für innovative Lebenszieldefinitionen eher aus den Großstädten zu erwarten sind?” [9]

Dies Frage kann mit Fug und Recht bejaht werden. Auch in Zeiten medialer Allumfassung ist der urbane Raum eine Innovationsarena ersten Ranges – und dies für (jugendliche) Lebensstile und Werthaltungen gleichermaßen. Während das Land von den Jugendlichen meist als Refugium erlebt wird, gilt die Stadt als Ressource, in der Kreativität und Experimentierfreudigkeit dominieren. Allerdings geht die städtische Dynamik, die eine während der explorativen Projektphase befragte Jugendliche (Ulla, 25 Jahre) sehr anschaulich mit “höherer Lebensgeschwindigkeit” umschrieben hat, nicht zu Lasten gemeinschaftlicher Werte und sozialer Integration, wie vielfach vermutet wird. Dies zeigt sich sehr deutlich in der breiten Zustimmung, die die Werteitems ‘Rücksicht auf andere nehmen’ (86%), ‘anderen Menschen helfen’ (84%) und ‘Verantwortung für andere übernehmen’ (62%) bei den Jugendlichen finden. Sie sind also mehrheitlich keineswegs auf einem antisozialen Ego-Trip, wie ihnen immer wieder unterstellt wird. Im Gegenteil, Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsorientierung und soziale Verantwortung sind feste Größen in ihrem Werteverständnis.

Weder die regionale Herkunft noch das Alter oder der Bildungsstatus der Befragten zeigen hinsichtlich der Gemeinwohlorientierung größere Unterschiede. Einzig ein Geschlechtseffekt ist nachweisbar. So sind es deutlich mehr Mädchen als Jungen, die eine hohe Bereitschaft bekunden, anderen Menschen Unterstützung zu geben (72% zu 55%). Auch hier sind Parallelen zur Shell-Studie 2000 offenkundig: “Die Dimension Menschlichkeit kann man wohl eine Frauen-Dimension nennen. Das überrascht nicht sehr, wenn Frauen bislang als gemeinhin sozial kompetent oder zumindest als das eher sozial-integrative Geschlecht gelten.”[10] Allerdings sollte man die Kooperativität und Hilfsbereitschaft der Jugendlichen nicht zu sehr an überkommenen Geschlechtsrollenvorstellungen festmachen. Denn zum einen signalisiert, wie bereits dargestellt, die hohe Zustimmungsrate bei den sozialen Werten, daß Solidarität und tätige Nächstenhilfe für die Mehrzahl von ihnen Leitorientierungen sind. Zum anderen verbindet sich ihr Zukunftsoptimismus dabei aufs Engste mit der Vorstellung und Hoffnung, künftige Aufgaben und Probleme nur kollektiv bewältigen zu können. “Als Einzelner stehst du in der heutigen Welt auf verlorenem Posten,” so umschreibt der 17jährige Lehrling Hans-Uwe sehr nüchtern die Haltung seiner Generation in diesem Punkt. Und er ergänzt, schon beinah im Sinne eines Appells: “Bei den kleinen wie bei den großen Dingen haben wir nur als Gemeinschaft eine Chance.” Daß es sich dabei keineswegs nur um Lippenbekenntnisse handelt, wird im Kontext der Analyse jugendlicher Partizipationsbereitschaft und Engagementformen noch deutlich werden.

4. Kirchliche und religiöse Bindungen

Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse führen bei den Jugendlichen also keineswegs zwangsläufig zu einer Ellenbogenmentalität, wie oft befürchtet wird. Allerdings ist unübersehbar: Auch die Suche nach (sozialen) Wertvorstellungen und Handlungsmaximen orientiert sich immer weniger an Traditionen, sondern muß in Eigenregie entwickelt und verantwortet werden. Damit sind weitreichende Folgen verbunden, die in der soziologischen Werte- und Religionsforschung als zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft diskutiert werden. Denn weltliche und religiöse Orientierungsformen und -instanzen geraten vor dem Hintergrund dieser Entwicklung verstärkt in eine marktähnliche Situation, die durch einen Verdrängungswettbewerb gekennzeichnet ist.[11] Die Folgen sind auch in unserer Untersuchung empirisch evident: Das gewachsene Autonomiebewußtsein der heutigen Jugendgeneration, das in einer Präferenz für Selbstentfaltungswerten zum Ausdruck kommt, geht einher mit einer Lockerung und Loslösung von traditionellen kirchlich-religiösen Bindungen einerseits und einer Subjektivierung und Individualisierung des Religiösen andererseits.

Zunächst einmal ist festzuhalten, daß die Kirche bei den Jugendlichen erheblich an Boden verloren hat. Nur noch etwa ein Fünftel (21%) bekundet eine ausgeprägte Kirchenbindung, die sich dann auch in entsprechend engagierten Teilnahmeformen am Gottesdienst, an kirchlichen Festen und in der Gemeinde zeigt. Ein weiteres knappes Fünftel (19%) ist der Institution zwar noch verbunden, aber in einer sehr lockeren und distanzierten Form. Die überwiegende Mehrzahl (60%) ist dagegen heute kirchenfern eingestellt. Bezüglich der Sozialstruktur der Jugendlichen zeigt sich dabei ein durchgehendes Muster: Es sind eher die Mädchen als die Jungen, die Jüngeren etwas häufiger als die Älteren, die in ländlichen Regionen Wohnenden eher als diejenigen in Stadtgebieten und katholische Jugendliche häufiger als evangelische, die sich zur Kirche bekennen. Die ausländischen (muslimischen) Jugendlichen nehmen hier eine Sonderstellung ein, denn sie sind entweder sehr eng mit ihrer Kirche verbunden, oder aber sie meiden konsequent religiöse Einrichtungen, Praktiken und Gruppierungen.

Auf zwei Entwicklungen ist in diesem Zusammenhang noch näher hinzuweisen. Zunächst einmal ist festzuhalten. daß der jugendliche Rückzug aus der Kirche verstärkt im letzten Jahrzehnt erfolgte, wie Vergleiche mit den 1991 in der Westeifelstudie erhobenen Daten zeigen. Besonders drastisch wird die gestiegene Kirchenferne an den Antworten auf die Frage deutlich: “Wie stehst Du zur Institution Kirche?”

Während Anfang der ‘90er Jahre die Haltung der Jugendlichen gegenüber der Kirche noch ausgeprägt positiv war – immerhin schätzten sich damals zwei Drittel als zumindest ‘interessiert’ an kirchlichen Belangen ein –, dominiert in der aktuellen Untersuchung eine skeptische bis negative Einstellung. Obwohl sich auch gegenwärtig die große Mehrheit der Jugendlichen (über 90%) noch zu einer Konfession bekennt, fühlt sich nur eine Minderheit von knapp einem Drittel mit der Institution Kirche verbunden.[12]  Der Bedeutungsverlust der Kirche ist auch in den Vorgesprächen immer wieder artikuliert worden. Sie ist in der Wahrnehmung der Jugendlichen, wie eine kleine Auswahl von kritischen Äußerungen zeigt, “viel zu hausbacken” (Karsten, 16 Jahre), “altmodisch” (Sylvia, 21 Jahre), langweilig” (Ruth, 24 Jahre), “ewig gestrig” (Sarah, 19 Jahre) oder “Lichtjahre weg von dem, was Jugendliche bewegt” (Gunnar, 17 Jahre).

Jedoch handelt es sich bei vielen Jugendlichen keineswegs um eine Fundamentalopposition zur Kirche, sondern um eine Art kritischer Distanz. Dies zeigt sich u.a. darin, daß die Mehrzahl (58%) die Aussage: “Ich stehe zur Kirche, aber sie muß sich ändern” bejaht hat. Dabei sind es in erster Linie diejenigen, die (noch) kirchlich interessiert und engagiert sind, die sich in dieser Weise äußern. Es sind ganz offensichtlich sehr konkrete Erfahrungen und Fragen, an denen sich die Kritikbereitschaft entzündet. Gerade weil man, so die etwas paradoxe Schlußfolgerung, die Kirche für wichtig erachtet, will man sie ändern. Die sozialstrukturelle Analyse bestätigt diese Vermutung: Es sind vor allem die Jugendlichen mit einer stärkeren Kirchenbindung – also Mädchen und junge Frauen sowie auf dem Land lebende Jugendliche –, die verstärkt den Wunsch nach Veränderungen in der Kirche bekunden. Negativ formuliert: Wenn das Band zur Kirche und Konfession einmal gerissen ist, dann ist es sehr schwer wiederherzustellen.

Haben auch die Glaubensüberzeugungen der Jugendlichen in gleicher Weise an Bedeutung verloren? Gibt es mithin eine Parallelentwicklung zwischen abnehmender Kirchen- und Religionsbindung? Hier sind wir auf eine andere Entwicklung gestoßen, denn kirchliche und religiöse Orientierungen erfahren im Selbstverständnis der Jugendlichen eine durchaus unterschiedliche Wertschätzung. War hinsichtlich ihrer kirchlichen Praxis das Zustimmungs/Ablehnungsverhältnis 1 zu 3, so ist es im Blick auf ihre Glaubensbindung genau umgekehrt. Zwar ist im Vergleich zur Westeifelstudie von 1991 auch hier ein Bedeutungsverlust der christlichen Religiosität zu konstatieren, aber er fällt zum einen nicht so dramatisch aus wie bei der Kirchlichkeit und zum anderen bezieht er sich in erster Linie auf die Alltagsrelevanz des Religiösen. Als fundamentale Sinninstanz ist Religion nach wie vor wichtig, was sich nicht zuletzt auch in dem Bekenntnis vieler Jugendlicher zu einem Leben nach dem Tode zeigt.

Ohne Frage ist es aber zu einer Lockerung und teilweise auch Entkoppelung von Religion und Kirche in der jugendlichen Lebenswelt gekommen. Denn nur knapp die Hälfte (46%) derjenigen, die sagen, sie seien sehr religiös, haben auch eine hohe Kirchenbindung. Selbst intensive Formen der Glaubensbindung sind also keineswegs mehr uneingeschränkt kirchennah verortet – eine Entwicklung, die auch deutliche Tendenzen in Richtung einer zunehmenden Privatisierung des Religiösen erkennen läßt. Eine zweite Entwicklung ist ebenso offenkundig: Religiöse Überzeugungen und Kirchennähe stehen in einem Bedingungsverhältnis, wobei die Frage nach Ursache und Wirkung allerdings schwer zu entscheiden ist. Jedoch ist unübersehbar, daß parallel zum Rückgang der Religiosität auch die Kirchenbindung sinkt. Am Ende dieses Prozesses der Abkühlung und Auflösung des Religion-Kirche-Verhältnisses findet sich jenes Drittel von Jugendlichen, die sich selbst als areligiös einstufen.

Für die Mehrzahl der Jugendlichen sind Glaubensfragen jedoch keineswegs belanglos geworden, wie immer wieder behauptet wird. Im Gegenteil, Religion ist für sie – vor allem auf einer sehr grundlegend existentiellen Ebene – nach wie vor von Bedeutung und nimmt in ihrem Leben einen wichtigen Platz ein, auch wenn sie dies vermehrt für sich behalten. Denn fast zwei Drittel (62%) stimmen ganz oder doch teilweise der Aussage zu: “Ich glaube, daß viele Jugendliche insgeheim sehr viel stärker an Religion bzw. Glaubensfragen interessiert sind, als es den Anschein hat.” In dieser Auffassung herrscht im übrigen unter den Jugendlichen weitestgehend Konsens. Denn während bei fast allen anderen Religionsfragen Geschlechts-, Alters-, Bildungs-, Regions- und Konfessionsunterschiede bestehen, wird die unzureichende Wahrnehmung der religiösen Haltung der anderen recht einheitlich eingeschätzt. Ganz offensichtlich gibt es also nicht nur einen Trend zur unsichtbaren Religion (Luckmann), sondern – und vielleicht noch stärker – zur unausgesprochenen Religion. Man wähnt sich in einer Defensivposition und vermeidet es, vor allem unter religiös Desinteressierten, seine Glaubensüberzeugungen anzusprechen. Im Sinne einer religiösen Schweigespirale erscheinen dann Religion und Glauben kommunikativ vielfach als nicht existent. Wie sehr die religiöse Schweigespirale sich in die Jugendmentalität bereits eingespurt hat, belegt die folgende Auswahl von qualitativ-schriftlichen Stellungnahmen zur o.g. Frage, um die wir mehrere Schulklassen nach Abschluß der quantitativen Erhebung gebeten haben:

“Ich glaube schon, viele sagen es nicht, daß sie daran interessiert sind, weil sie sich vielleicht vor ihren coolen Freunden, die es absolut nicht interessiert, schämen. Sie haben vielleicht Angst, daß sie von ihnen nicht mehr so akzeptiert werden, wie sie sind, wenn sie zugeben, daß sie an Religion und Glaubensfragen interessiert sind” (Maithe, 16 Jahre).

“Ich sehe das eigentlich genauso. Viele Jugendliche, denke ich mal, glauben an Gott, wollen dies aber nicht in aller Öffentlichkeit zugeben, weil sie Angst haben, von den anderen ausgelacht zu werden. Deshalb trauen sie sich nicht, sich zu ihrer Religion zu bekennen. Die Angst ausgelacht zu werden liegt größtenteils daran, daß die Kirche ein schlechtes Image hat als Langweileranstalt usw.” (Sven, 16 Jahre).

“Ich glaube, diese Aussage trifft voll zu, allerdings sollte man das näher definieren: Viele Jugendliche setzen sich mit der Religion auseinander, indem sie die Religion/den Glauben hinterfragen oder in Frage stellen! Ich denke, daß der Glaube an Gott beziehungsweise Gott selber etwas absolut Unbekanntes hat und den meisten Jugendlichen völlig unbekannt ist. Und da Geheimnisse und Unbekanntes Jugendliche interessieren, setzen sich die Jugendlichen oft auch in eher unbewußter Weise damit auseinander. Das Zugeben ist allerdings eher ‘uncool’. Solche Leute trauen sich nicht, sich dazu zu äußern, bis sie ihren Weg zu oder von Gott weg gefunden haben” (Erik, 15 Jahre).

“Ich stimme dieser Meinung im Prinzip zu. Viele trauen es nicht zuzugeben, daß sie insgeheim doch an eine Existenz Gottes glauben. Ich kann das auch aus eigener Erfahrung berichten: Als wir in der Schule ein öffentliches Gebetstreffen in der Pause veranstalteten, gab es überraschend viele Schüler, die neugierig vor der Tür standen und beratschlagten, ob sie sich trauen sollten mitzumachen. Die meisten sind wieder gegangen, aber es war immerhin Interesse da, und am Musiksaal, in dem wir waren, kommt man nicht ‘von alleine’ vorbei, da er im 2. Obergeschoß liegt. Es sind zwar viele, aber keineswegs alle, auf die diese Aussage zutrifft. Die meisten sind wohl auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben Sinn geben kann. Schule und Schlafen kann ja nicht alles sein. Manche versuchen diesen Sinn in Partys zu finden, aber das geht auf die Dauer auch nicht gut. Die Jugendlichen suchen etwas, das Perspektive geben kann” (Jessica, 17 Jahre).

Die Äußerungen der Jugendlichen sind beeindruckende Beispiele dafür, daß künftig die religiöse Spurensuche verstärkt auch unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle erfolgen sollte. Manche Befürchtungen über die jugendliche Abkehr von Religion dürften vor diesem Hintergrund eher Resultat einer sehr vordergründigen Beobachtung sein und weniger dem versteckten religiösen Potential der Jugendlichen Rechnung tragen. Allerdings geraten standardisierte Forschungsmethoden hier an ihre Grenzen. Diese zu überwinden und zu den verborgenen Dimensionen ihrer Religiosität vorzustoßen, setzt einen Grad an Intimität, Vertrauen und Kontinuität voraus, wie sie nur in einer Mischung aus biographischer und ethnographisch Forschung möglich werden.[13] Dann freilich gelangt man auf ein weites religiöses Feld, das im Selbstverständnis der Jugendlichen keineswegs nur durch eine Glaubensform und -gemeinschaft bestimmt ist. Vielmehr haben wir in unserer Untersuchung auch Anhaltspunkte dafür gefunden, daß Jugendliche christliche und nichtchristliche Glaubensüberzeugungen und Daseinsdeutungen miteinander kombinieren. Daß sie neue Glaubensinhalte ausschließlich in alternativen religiösen Gruppen wie Sekten oder im Okkultismus finden, können wir allerdings nicht bestätigen. Denn gerade ihre Bindung an okkulte Praktiken wie Tischerücken, Pendeln oder Kartenlegen ist locker und temporär und steht eher in einer Komplementärbeziehung zum christlichen Glauben und weniger in einem Substitutionsverhältnis. Der dominante religiöse Bezugspunkt bleibt für sie das christliche Weltbild. Das bedeutet, für die Sinndeutung der Welt und die Sinnfindung der eigenen Existenz ist der christliche Glaube für viele Jugendliche unverzichtbar. Aber er hat Konkurrenz bekommen, denn alte Gewißheiten im Verhältnis von Jugend, Religion und Kirche sind durch die gleichzeitige Präsenz von alternativen Sinnwelten und Deutungsangeboten obsolet geworden. Als Folge müssen Jugendliche vermehrt auch in Religions- und Sinnfragen, wie dies eine Befragte (Svenja, 17 Jahre) formuliert hat, “ihre persönliche Linie finden.”

 

5. Politik und Partizipation

Medienwirksame Schlagworte wie Politikmüdigkeit und Politikverdrossenheit Jugendlicher lösen in der öffentlichen Diskussion immer wieder Irritationen aus. Denn sie legen den Schluß nahe, Politik sei für Jugendliche kein Thema mehr, ja mehr noch, sie würden dem demokratischen System jegliche Loyalität und Unterstützung verweigern. Die Frage ist: Handelt es sich bei diesen Einschätzungen um zutreffende Beschreibungen des jugendlichen Politikverhaltens oder um Pauschalisierungen und Vereinfachungen, die vielleicht mehr über die Urheber dieser Äußerungen aussagen, als über ihre jugendlichen Adressaten? Vorurteilslosigkeit und Differenzierungsfähigkeit sind gefordert. Wer sie aufbringt, wird eine – für manche vielleicht überraschende – Beobachtung machen: Jugendliche sind weder politikmüde noch politikverdrossen, sondern ihr Politikverständnis ist differenziert und fügt sich keiner einfachen Denkschablone. Weder das soziale Umfeld noch die ökologische Umwelt ist ihnen gleichgültig. Dies ist ein Schlüsselergebnis unserer Studie. Es ist fast deckungsgleich mit den Befunden der Shell-Jugendstudie 2000: “Jugendliche sind durchaus engagementbereit,” heißt es hier, “nur nicht zu den Bedingungen der Erwachsenenpolitik.”[14]

Bei der Standardfrage nach dem allgemeinen politischen Interesse zeigt sich im Vergleich zu der Westeifelstudie zunächst einmal ein Rückgang, denn seit 1991 hat sich der Anteil der politisch Desinteressierten unter den Jugendlichen von 12% auf 27% mehr als verdoppelt. Ungeachtet der rückläufigen Tendenz, interessiert sich aber die Majorität nach wie vor für Politik. Allerdings unterliegt die Interessensrate – und zwar in Abhängigkeit vom Geschlecht, dem Alter und Wohnort sowie vor allem dem Bildungsniveau der Befragten – zum Teil recht beachtlichen Schwankungen. Zudem sind wir noch auf zwei weitere, relevante Einflußfaktoren gestoßen. Zum einen sind Jugendliche, die sich für ihr Handeln selbst verantwortlich fühlen, sehr viel stärker an Politik interessiert als diejenigen, die davon ausgehen, daß viele Entscheidungen im Alltag fremdbestimmt sind. Zum anderen gibt es eine enge Beziehung zwischen Religiosität und politischem Interesse: Wer nämlich stark religiös geprägt ist, macht sich auch mehr Gedanken über politische und soziale Alltagsprobleme. Zwischen dem christlichen Menschen- und Weltbild, so die naheliegende Schlußfolgerung, und bestimmten auf die Gemeinschaft bezogenen Werten und Idealen, besteht ein starker Zusammenhang.

Neben der Frage nach dem politischen Interesse ist auch der Aspekt interessant, für welche spezifischen politischen Themen sich Jugendliche interessieren. Dabei lassen sich folgende Differenzierungen nachweisen:

- Zu den wichtigsten Themen zählen sie Fragen der individuellen und kollektiven Sicherheit (Arbeit/Arbeitslosigkeit, Friedenspolitik, Umweltschutz) sowie aktuelle Tagesereignisse. Parteipolitik findet sich dagegen auf den hinteren Rängen ihres politischen Themenkatalogs. Den geringsten Aufmerksamkeitswert hat die Frage nach dem ‘Verhältnis alte/neue Bundesländer’. Für uns ist es derzeit noch eine offene Frage, ob dieses Ergebnis als Normalisierung der Beziehung zwischen den alten und neuen Ländern interpretiert werden kann oder als Gleichgültigkeit. Sicherlich spielt auch eine Rolle, daß für die Jugendlichen in unserer Erhebungsregion diese Themen nicht so zentral sind wie in anderen Teilen Deutschlands.

- Das politische Interesse ist nicht auf ein Thema konzentriert, sondern in der Regel auf mehrere. Dabei sind Grundorientierungen und -überzeugungen (z.B. Ökologie, Pazifismus) zu unterscheiden von tagespolitischen Themen und Ereignissen (z.B. Spendenskandale, Turbo-Abitur). Die thematischen Präferenzen können sich aber, in Abhängigkeit von der politischen Großwetterlage und individueller Betroffenheit, auch rasch verändern. Einen konstant hohen Stellenwert haben für die Jugendlichen jedoch Fragen nach der Zukunft der Arbeit, die sie zudem aufs Engste mit ihrer persönlichen Zukunft verknüpfen.

- Die Mitgliedschaft in oder das Interesse an bestimmten Gruppierungen und Institutionen nimmt Einfluß auf die Themenpräferenz. So geht die Sympathie für oder die Mitwirkung in Umweltschutzgruppen einher mit einer starken Fixierung auf globale Themen wie Kernkraft, Dritte-Welt-Problematik und ökologische Fragen. Wer sich dagegen in Landjugendverbänden oder Institutionen der kirchlichen Jugendarbeit engagiert, präferiert eindeutig lokale Themen und zwar von der Auseinandersetzung über die Nutzung und (Selbst-)Verwaltung des örtlichen Jugendheims bis zur Bewachung von unter Naturschutz stehenden Orchideenfeldern.

Angesichts des Themenspektrums und der hohen Zustimmungsrate kann von einem allgemeinen Desinteresse der Jugend an politischen Fragen nicht gesprochen werden. Im Gegenteil, die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen ist politisch aufgeschlossen und glaubt daran, daß “die kleinen und die großen Fragen,” wie dies ein Befragter (Hans, 19 Jahre) formuliert hat, “immer noch am besten in einer Demokratie gelöst werden können.” Es hat aber fraglos eine Themenverlagerung stattgefunden. Denn im Vergleich zu der Untersuchung von 1991 ist heute das Thema ‘Arbeit und Arbeitslosigkeit’ ihr Hauptanliegen und ihre Hautsorge. Dies zeigt sich in besonderer Weise bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage: Über zwei Drittel (70%) der Jugendlichn sind davon überzeugt, daß die ökonomische Krisensituation sich noch verschärfen wird, und fast alle (93%) gehen davon aus, daß es in Zukunft nicht mehr für jeden einen angemessenen Arbeitsplatz geben wird. Massenarbeitslosigkeit, Lehrstellenknappheit und Dauerinnovationen in der heutigen Arbeitswelt haben offensichtlich in ihrem Bewußtsein tiefe Spuren hinterlassen. Wie realistisch diese Vorstellungen letztlich auch immer sein mögen, die Jugendlichen sind davon überzeugt, daß Arbeit in unserer Gesellschaft ein knappes, ja immer knapper werdendes Gut ist, und sie richten ihre Ursachenzuschreibungen danach aus. Daß dabei auch (oder gerade) die Ausländer zunehmend in eine Art Sündenbockrolle gedrängt werden, die teilweise mit massiven Ablehnungs- und Ausgrnzungsreaktionen einhergeht, zeigen unsere Ergebnisse sehr deutlich.

Auch wenn bisweilen der Eindruck entsteht, daß von den Jugendlichen bestimmte globale Krisenphänomene etwas überzeichnet werden, so führt die daran gegnüpfte pessimistische Zukunftssicht aber nicht zu einer politischen Vogel-Strauß-Haltung in der Gegenwart. Im Gegenteil, sie versuchen einen eigenen politischen Weg zu finden – und zu gehen, wie sich auch an den Formen ihrer politischen Beteiligung nachweisen läßt.

Zunächst ist festzuhalten, daß der eigene Weg kein Sonderweg jenseits der demokratischen Ordnung ist. Denn die häufigsten Nennungen (89%) fallen in die Kategorie ‘Wählen’, d.h. sich auf klassische Weise an der Mehrheitsbildung in einer repräsentativen Demokratie zu beteiligen. Was sie aber besonders schätzen und praktizieren, sind direkte Partizipationsformen. Bezeichnend hierfür ist die Teilnahme an Unterschriftenaktionen, Demonstrationen und Streiks. Jugendliche lieben die spontane Aktion, die sich gegen ganz konkrete Ereignisse und Probleme wendet. Längerfristige Bindungen und Festlegungen, wie sie für die Mitarbeit in Bürgerinitiativen, Jugendparlamenten und Parteien charakteristisch sind, finden dagegen deutlich weniger Zuspruch. Eine Minorität von Jugendlichen (13%) ist bereit, an gewaltsamen politischen Aktionen teilzunehmen. Es handelt sich dabei um meist jüngere, männliche Jugendliche mit niedriger Schulbildung, geringem Selbstvertrauen und einer pessimistischen Zukunftssicht. Um ihre Interessen durchzusetzen und sich Anerkennung zu verschaffen, scheuen sie offensichtlich auch vor Gewaltanwendung nicht zurück. Oder anders formuliert: Wer nur seinen Körper als Identitätsressource hat, der setzt ihn in konflikthaften Auseinandersetzungen auch vermehrt ein. Der Weg ins gesellschaftliche Abseits scheint vorgezeichnet, wenn ihnen keine Hilfe zuteil wird.

Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen greift jedoch auf legale, aber unkonventionelle Strategien und Initiativen zurück, um ihren politischen Auffassungen Gehör und Geltung zu verschaffen. Ihr politisches Handeln zielt dabei auf Themen und Probleme, die sie unmittelbar betreffen. In erster Linie geht es um ortsbezogene Fragen und Forderungen. So stehen etwa Treffpunkte für Jugendliche oder Jugendzentren auf ihrer politischen Agenda ganz oben. Aber auch die Organisation und Durchführung von Naturschutzaktionen erfreuen sich bei den Jugendlichen einer wachsenden Beliebtheit, wobei hier vor allem in ländlichen Regionen eine Vielzahl von Aktionsmöglichkeiten gegeben sind. Hier zeigt sich ein interessanter Standorteffekt. Denn neben dem Alter und dem Bildungsstand nimmt auch die Wohnregion Einfluß auf ihr Politikverhalten. Die Unterschiede zwischen in der Stadt und auf dem Land lebenden Jugendlichen sind nämlich am ausgeprägtesten, wenn es sich um politische Großaktionen, wie z.B. Demonstrationen (Stadt: 62%; Land: 46%) und Streiks (Stadt: 52%; Land: 38%), oder um Massenveranstaltungen und Kundgebungen (Stadt: 51%; Land: 38%) handelt. Städte bieten Jugendlichen mehr und andere Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, was sich in den Ergebnissen ganz eindeutig widerspiegelt. Aber daraus abzuleiten, Stadtjugendliche seien politischer als Landjugendliche, wäre voreilig und unzutreffend.

Dies wird u.a. an Formen der Gemeinwesenorientierung sichtbar. Denn danach befragt, ob sie eine ehrenamtliche Tätigkeit ausüben, bejahten dies die auf dem Land wohnenden Jugendlichen (23%) etwas häufiger als die Stadtjugendlichen (20%). Deutlicher treten die Unterschiede bei der Frage nach der Mitgliedschaft und Mitwirkung in bestimmten sozialen Institutionen zu Tage. So engagieren sich Jugendliche aus ländlichen Regionen stärker in freiwilligen Hilfseinrichtungen wie der Feuerwehr (Stadt: 17%; Land: 28%) oder dem Deutschen Roten Kreuz (Stadt: 9%; Land: 23%), in Musikvereinen (Stadt: 13%; Land: 21%), Jugendverbänden (Stadt: 6%; Land: 10%) und kirchlichen Gruppen (Stadt: 8%; Land: 14%). Und nicht zuletzt wird auch bei der Frage nach potentiellen Engagementbereichen (“Wo denkst Du, daß Du auf freiwilliger Basis einen nützlichen Beitrag leisten könntest?”) ein Stadt-Land-Gefälle sichtbar. Es ist der jeweilige lebensweltliche Nahraum, der in ähnlicher Weise wie beim Politikhabitus auch für die bereits realisierte oder geplante Freiwilligenarbeit der Jugendlichen prägend ist. Daß dabei auch tradierte Geschlechtsrollenmuster unmittelbar wirksam sind, wie vor allem die ungleichen hilfeorientierten Engagementpotentiale bei der Kinderbetreuung (Jungen: 25%; Mädchen: 67%), der Hausaufgabenhilfe (Jungen: 29%; Mädchen: 47%), der Altenpflege (Jungen: 17%; Mädchen: 35%) sowie die Mitwirkung in Selbsthilfegruppen (Jungen: 14%; Mädchen: 29%) oder die Betreuung von Aussiedlern (Jungen: 14%; Mädchen: 23%) zeigen, ist ebenfalls noch erwähnenswert.

Jenseits aller durchaus vorhandenen und teilweise auch recht massiven sozialstrukturellen Differenzierungen kann aber festgehalten werden: Jugendliche zeigen für viele Bereiche ihres sozialen Umfelds Interesse und können sich durchaus vorstellen, auch hier Engagement zu entwickeln. Einrichtungen der Jugendarbeit, Sportvereine und Betätigungsfelder in der unmittelbaren Nachbarschaft – und zwar von der Kinderbetreuung über Hausaufgabenhilfe bis zur Altenpflege – werden von ihnen als potentielle Handlungsfelder für Freiwilligenarbeit genannt. Dabei hat das freiwillige Helfen für sie aber weniger den Charakter von Arbeit, sondern ist eine Form des Austauschs und der Begegnung und oft auch des gemeinsamen Spaßhabens. Unterstützung und Geselligkeit gehen Hand in Hand. Ob im sozialen, kulturellen oder ökologischen Bereich, Anknüpfungspunkte für gemeinschaftliches Handeln sehen die Jugendlichen in großer Zahl. Sie setzen sie aber oft nur dann um, wenn sie dabei unter sich bleiben können. Vergleichbare Abschottungsstrategien sind auch für das bürgerschaftliche Engagement von Erwachsenen charakteristisch: Man bleibt (auch hier) lieber unter sich.[15]

Unser Fazit lautet: Genauso wie das politische Interesse und Engagement, braucht auch die Freiwilligenarbeit der Jugendlichen lebensweltbezogene Bezugspunkte. Sie findet in erster Linie im Kleinen und Alltäglichen statt, ist auf den lokalen Raum konzentriert, ohne daß damit globale Themen und Problemlagen völlig an Bedeutung verlieren würden. Freiräume zu erobern – und manchmal auch regelrecht zu besetzen –, auf unkonventionelle Art Unterstützung für ihre Interessen zu finden, sind für sie genauso legitime Strategien, wie zur Wahl zu gehen. Jedoch präferieren sie ganz eindeutig unverbindliche und spontane politische Ausdrucksweisen und Engagementformen, in denen neben Gestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten immer auch Kommunikation, Gesellung und Spaß eine wichtige Rolle spielen. Der lange Schatten der Erlebnisgesellschaft erstreckt sich ganz offensichtlich auch auf das jugendliche Politikverständnis. Ihr Politikbild und ihr Politikstil sind gleichsam jugendkulturell überformt. Dies impliziert, wie Kurt Möller zu Recht feststellt, daß eine bei der heutigen Jugend “durchaus vorhandene stabile gesellschaftliche Engagementbereitschaft sich immer weniger in Form von dauerhafter und verbindlicher politischer Betätigung in (und von) Organisationen binden läßt.”[16] Denn was sie beinahe kategorisch ablehnen, sind die herkömmlichen politischen Strategien incl. ihrer Vertreter. Ein Jugendlicher hat die ablehnende Haltung auf den Punkt gebracht: “Nicht mit uns in dieser Form” (Dirk, 17 Jahre).

Ob und wie der Abwendung von der Politik der Altvorderen wirkungsvoll begegnet und Vertrauenswürdigkeit zurückgewonnen werden kann, erscheint angesichts der immer neuen Politikskandale und Enthüllungen – auch in unserem Erhebungsgebiet – mehr als zweifelhaft. Auch Roland Eckert ist hinsichtlich der Vorbildfunktion und Glaubwürdigkeit der herrschenden Politikerkaste eher skeptisch: “Politik wie überhaupt die öffentlichen Einrichtungen können die Beteiligungs- und Leistungsbereitschaft von Jugendlichen mobilisieren. Sie werden dies jedoch nicht tun, wenn sie nur die Einfügung in die vorgegebenen Strukturen fordern. In der Kirche führt dies zu institutionalisierter Heuchelei, in der Politik zu Zynismus. Konservative Appelle werden also nicht wirken. Politik kann darüber hinaus auch nicht mobilisieren, wenn sie selbst das Bild vermittelt, daß der Homo politicus nur eine spezialisierte Ausprägung des Homo oeconomicus ist. Bürger (und es ist hinzuzufügen: auch Jugendliche) wollen gefordert werden – von Politikern, die selbst etwas von sich fordern. Prosoziale Motivationen werden am Modell gelernt: Dies gilt auch für die Politik. (...) Die moralischen Ansprüche an Politik sind gestiegen, dies ist der positive Kern der sogenannten ‘Parteienverdrossenheit’. Den moralischen Surplus jugendlichen Lebens wird letztlich nur aktivieren können, wer deutlich macht, daß die Gesellschaft aktive Jugendliche als Ergänzung oder Korrektur von Marktmechanismen und institutionellen Regelungen braucht.”[17]

 

6. Ortsbindung und Bleibeorientierung

Unter der Stadt-Land-Perspektive von besonderer Bedeutung ist die Frage: ”Bleiben oder Gehen?” Mit dieser Kurzformel haben nämlich die Jugendlichen in den Vorgesprächen immer wieder signalisiert, daß die Entscheidung darüber, ob man am Wohnort bleiben oder ihn verlassen möchte, für sie eine eminent wichtige Angelegenheit ist. Auch wenn diese Frage weit in die Zukunft greift, also eine Zeitperspektive umfaßt, die nur schwer überschaubar ist, so beschäftigt sie die Jugendlichen dennoch sehr stark.

Dazu haben wir ihnen sowohl in der Westeifelstudie von 1991 als auch in der aktuellen Untersuchung folgende Frage gestellt: ”Beabsichtigst Du in Zukunft in deinem jetzigen Wohnort zu leben?” Bezogen auf die aktuelle Jugendbefragung ist zunächst einmal ganz allgemein festzuhalten, daß der Anteil der Befragten, die im Wohnort bleiben oder wegziehen möchten, mit jeweils knapp 40% etwa gleich groß ist; etwas mehr als ein Fünftel war zum Erhebungszeitpunkt noch unentschieden. Die Vergleichsperspektive offenbart aber zwei aufschlußreiche Differenzierungen und Entwicklungen:

- Zwischen städtischen und ländlichen Regionen besteht eine erhebliche Differenz hinsichtlich der jugendlichen Bleibeorientierung. Sie ist bei den jungen Leuten, die auf dem Land wohnen, deutlich ausgeprägter.

- Die Ortsbindungs- resp. Wanderungsrate der Landjugendlichen ist zudem durch eine relativ hohe Konstanz gekennzeichnet, jedenfalls für das vergangene Jahrzehnt. Ein geringer Austausch hat lediglich stattgefunden zwischen den Kategorien: ”Ich glaube, daß ich in einigen Jahren wegziehen werde” und: ”Nein, ich möchte auf jeden Fall wegziehen.”

Sucht man nach Erklärungen für diese Befunde, dann ist es wenig hilfreich, in erster Linie ein ökonomisches und kulturelles Stadt-Land-Gefälle dafür verantwortlich machen. Denn bereits in älteren Jugendstudien konnte nachgewiesen werden, daß Abwandern oder Bleiben als Orientierungsmuster immer auch vom sozio-demographischen Status der Jugendlichen, von der familiären Situation und nicht zuletzt von sogenannten Gelegenheitsstrukturen abhängen, die sich vom Freizeitangebot über Gruppenbindungen bis zu den unterschiedlichsten Formen sozialen Engagements erstrecken können. Auch in unserer Studie bestätigt sich diese Polyvalenz der Ortsbindung. Denn neben der regionsbezogenen Differenz bei der Bleibe- resp. Mobilitätsorientierung, lassen sich auch signifikante Unterschiede bezüglich des Geschlechts und Bildungsniveaus der Befragten nachweisen. So sagen mehr Jungen als Mädchen, auch später einmal in ihrem jetzigen Wohnort leben zu wollen. Allerdings ist die Geschlechterdifferenz in diesem Falle vorrangig ein Stadt-Effekt. Das bedeutet, in ländlichen Gebieten sind die Vorstellungen zur Ortsbindung zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen weitestgehend deckungsgleich. Offensichtlich bietet das dörfliche Leben heute für beide Geschlechter hinreichend Chancen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung – ein Befund, den auch Helga Huber in einer Jugendstudie in ländlichen Regionen Süddeutschlands bestätigen kann: “Das Leben auf dem Dorf ist für die Mädchen attraktiver geworden, ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume haben sich erweitert, sie selbst sind selbständiger und selbstbewußter geworden. Erhöhte Mobilität und die Möglichkeiten außerhalb des Dorfes zur Schule und Arbeit zu gehen, befähigt sie heute mehr als je, ihre eigenen Lebensentwürfe innerhalb der Dorfgemeinschaft zu verwirklichen.“[18]

Allerdings gibt es hierzu auch eine starke gegenläufige Entwicklung, die vor allem mit dem Bildungsniveau zusammenhängt. Die Korrelation ist eindeutig: Je höher der Bildungsstatus, desto geringer die Bleibeorientierung. Die bildungsabhängige Mobilität ist dabei sowohl geschlechts- als auch regionsübergreifend. Das heißt, ganz gleich ob Jungen oder Mädchen, Stadt- oder Landjugendliche, was viele höher Gebildete verbindet, ist ein sehr pragmatisches Verhältnis zwischen Ortsbindung und beruflicher Perspektive. Auch wenn der Ortswechsel bisweilen schwerfällt und einem erzwungenen Abschied gleichkommt, er entspricht den Erfordernissen der heutigen Bildungs- und Berufswelt und wird vor allem von den Studierenden als absolut notwendig wahrgenommen. Eine Gymnasiastin hat dazu gemeint: “Ich weiß, daß ich aus Bitburg weg muß, wenn ich Ökotrophologie studieren will und mal an einen guten Job rankommen möchte. Aber meine Wurzeln sind hier und bleiben hier. Ich kann mir auch vorstellen, später wieder hierher zurückzukommen“ (Julia, 16 Jahre). Letztlich zeigt sich auch am residenziellen oder ortsgebundenen Mobilitätsverhalten der Jugendlichen, welchen Stellenwert sie einer qualifizierten Berufsarbeit zuschreiben. Auch in der Aussage einer Studentin, mit der wir in der Pilotphase unse­res Projektes ein längeres Gespräch geführt haben, ist dieser Aspekt sehr klar und eindringlich formuliert: “Heute kommt kein Job auf dich zu, du mußt auf den Job zugehen. Ob Praktikantenstelle oder Managerposten, die Grundregel ist die gleiche: Dabeisein heißt Mobilsein“ (Carmen, 24 Jahre).

Weitere Faktoren, die sich auf die Ortsbindung auswirken, sollen lediglich kursorisch genannt werden. Während wir – im Unterschied zu anderen Jugendstudien – für das Alter und die Cliquenbindung keine Abhängigkeiten nachweisen konnten, besteht aber hinsichtlich anderer Aspekte eine deutliche Einflußwirkung. Von der Frage, ob man an dem jetzigen Wohnort auch geboren ist (Ortsansässigkeit) über das Verhältnis zu den Eltern, der Erwerbstätigkeit und den eigenen Familienstand bis hin zu den unterschiedlichsten freizeitlichen, sozialen und religiösen Gemeinschaftsformen reicht das Spektrum der Faktoren, die auf die Ortsbindung Einfluß nehmen. Gerade die auf den sozialen Nahraum ausgerichteten gemeinschaftlichen Aktivitäten wecken und stärken bei einem bestimmten Typus von Jugendlichen ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Wohnumgebung und werden regelrecht zu Generatoren einer wachsenden Bleibeorientierung. Dabei betonen sie zudem ihre aktive und eigenverant­wortliche Rolle, wie die Antwortverteilung auf die Frage: “Ob ich mich hier im Ort/der Stadt wohlfühle oder nicht, dafür bin ich auch selbst verantwortlich“ unterstreicht.

 Vier von fünf Jugendlichen stimmen der Auffassung völlig oder doch eher zu, daß persönliches Engagement unverzichtbar ist, um sich an seinem Wohnort wohlzufühlen. Sich einbringen und Mitmachen werden von ihnen als Handlungsziele bekundet, von denen eine starke Bindungs- und Integrationskraft ausgeht. Hier deutet sich an, daß Individualisierungsbestrebungen und Gemeinwesenorientierungen sich keineswegs ausschließen müssen, sondern viele Jugendliche scheinen ganz offensichtlich eine Grundhaltung auszubilden und darauf bezogen Strategien zu entwickeln, die eine Verschränkung beider Orientierungsmuster erlauben. Wie auch immer im einzelnen die subjektive Ausgestaltung sozialer Zugehörigkeit und Verantwortungsübernahme aussieht, dieses Ergebnis verdeutlicht, daß die in der öffentlichen Auseinandersetzung immer wieder geäußerten Befürchtungen vom sozialen Kollaps als Folge einer hedonistischen Ich-Orientierung in dieser extremen Form keine Entsprechung im Jugendalltag und im jugendlichen Selbstverständnis haben.

Der konstatierten Gemeinwesenorientierung korrespondiert – in ländlichen Regionen im übrigen stärker als in der Stadt – aber nicht nur eine wachsende Bleibeorientierung bei den Jugendlichen, sondern der Herkunftsort stellt in ihrem Bewußtsein auch so etwas wie einen festen Stützpunkt dar, den man nicht aufgeben möchte. Selbst wenn man ihn aufgrund seines Bildungs- und Berufswegs verlassen muß, so bleiben viele Jugendliche dennoch ihrer Heimatregion in besonderer Weise emotional und sozial verbunden, wobei auch eine spätere Rückkehr nicht ausgeschlossen wird. Bis dahin möchten vor allem die Landjugendlichen aber unbedingt in ihrer dörflich-vertrauten Umgebung bleiben. Dies bedeutet jedoch kein räumliches Einigeln oder Inseldasein, vielmehr erschließen sie sich durch eine erhöhte Motorisierung auch regionale und städtische Lebensbereiche und Institutionen. Beinah professionell organisierte Mitfahrgelegenheiten und die tätige Mithilfe der Eltern garantieren eine Form von Verkehrsmobilität, die Freizeit- und Kulturorte ebenso erreichbar machen wie Schul-, Ausbildungs- und Berufsstätten.

 

IV. Fazit: Das Projekt des “eigenen Lebens” gilt in Stadt und Land gleichermaßen

Individualisierungsprozesse rücken angesichts zunehmender Wahlfreiheiten das individuelle Tun und die Eigenverantwortung ins Zentrum der Daseinsgestaltung. Daß diese Entwicklung für die heutigen Jugendlichen weitreichende Konsequenzen für ihr Selbstverständnis und ihre Zukunftsplanung hat, belegen unsere Ergebnisse nachdrücklich. Was jedoch überrascht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich diesen Herausforderungen stellen. Sie fühlen sich ”keineswegs durch die Gespenster bedroht, die in den öffentlichen Debatten an die Wand gemalt werden: Werteverfall und Ich-Sucht.”[19] Im Gegenteil, sie nehmen die Herausforderungen polyvalenter Lebens- und Handlungssituationen produktiv an und versuchen sich in dem neuen Optionsraum möglichst originär – und vielfach auch originell – einzurichten.

Auch wenn dem räumlichen Umfeld nach wir vor eine prägende Kraft für die Lebenswirklichkeit der heutigen jungen Generation zukommt, eines ist ganz offensichtlich: Die Stereotypen von den ‘Landeiern’ und ‘Dorfdeppen’ gehören endgültig der Vergangenheit an. Heute leben Landjugendliche durch die erhöhte Mobilität gleichsam in mehreren Welten, wohnen aber nur in einer. Ihr Lebensstil und ihre Lebensphilosophie sind ein Indiz dafür, daß es trotz weitreichender Globalisierungs- und Mediatisierungsprozesse nicht zu einer Angleichung oder Nivellierung der regional differenzierten Lebensbereiche gekommen ist. Es sind vielmehr gerade die Unterschiede, die sie für die Jugendlichen aus dörflichen Milieus in besonderer Weise attraktiv machen. Sie führen nämlich gleichzeitig eine teils städtische und teils ländliche Existenzweise. Ihr Lebensentwurf zielt sowohl auf Enge als auch auf Weite ab, wobei das Verhältnis zwischen beiden immer wieder ausbalanciert werden muß. Daß dies nicht ohne Reibungsverluste geht, haben die Jugendlichen durch Hinweise auf „den nervigen Klatsch und Tratsch“ (Susanne, 19 Jahrte), „die Vereinsmeierei“ (Sebastian, 17 Jahre), „den Standesdünkel der Alteingesessenen“ (Christian, 22 Jahre) oder „die Kleinkariertheit und Intoleranz“ (Julia, 20 Jahre) in recht deutlichen Worten zum Ausdruck gebracht. Aber trotz dieser repressiven Erfahrungen reagieren die meisten Landjugendlichen nicht mit Distanzierung oder gar Abwanderung. Die Vorteile der ländlichen Lebenswelt (Überschaubarkeit, Eingebundensein, Mitwirkungschancen, intakte Umwelt, Brauchtumspflege) überwiegen ganz offensichtlich die Nachteile. Auch wer aufgrund seines Bildungs- und Berufsweges den ländlichen Herkunftsort bereits verlassen mußte oder davon ausgeht, daß dies in naher Zukunft der Fall sein wird, die Bindung an ihn will man nicht aufgeben. Die selbstbewußte und zeitüberdauernde lokale Zugehörigkeit, die eine Fachhochschülerin aus einem kleinen Ort in der Eifel mit den Worten umschrieben hat: “Da wo ich herkomme, das bleibt immer mein Lebensmittelpunkt“ (Silvia, 24 Jahre), ist nicht zuletzt wohl auch Ausdruck eines tiefen Heimatgefühls.

Zwar unterscheiden sich die Gestaltungsspielräume für das eigene Leben zwischen Stadt- und Landjugendlichen voneinander, aber nicht in einer defizitären sondern eher evokatorischen Art und Weise. Denn trotz erheblicher infrastruktureller Differenzen zwischen den einzelnen Regionen, bieten sie genügend Raum und Herausforderung für individuelle Lebensentwürfe. Daß die Jugendlichen dabei auch an deren Realisierung glauben, ist nicht zuletzt an der positiven Grundstimmung ablesbar, mit der sie ihre Zukunft einschätzen: 53% sind nämlich zukunftsfroh eingestellt, 44% zumindest vorsichtig optimistisch und nur 3% pessimistisch. Allerdings sind diese positiven Zukunftsvorstellungen sehr stark auf die individuelle Lebensplanung gerichtet, wobei vor allem die enge Verschränkung zwischen der allgemeinen Zukunftseinschätzung und der beruflichen Zukunftssicht hervorzuheben ist. Denn je positiver die Zukunft insgesamt gesehen wird, desto höher ist auch das Zutrauen, künftig mit den Herausforderungen der Arbeitswelt zurechtzukommen. Wer von seinen Stärken überzeugt ist, d.h. wer eine hohe interne Kontrollüberzeugung hat, der blickt auch sehr zuversichtlich in seine private wie berufliche Zukunft. Eine Jugendliche hat den Glauben an die Zukunft und an sich selbst auf die Formel: “Was dir die Zukunft bringt, das steht nicht in den Sternen, sondern liegt in deiner Hand“ (Ruth, 19 Jahre).

Dabei wird der eigene Lebensentwurf und die eigene Lebenspraxis sehr stark als Experiment gesehen, das es weniger normativ als vielmehr pragmatisch zu bewältigen gilt. An die Stelle von kollektiven Gewißheiten, so könnte man auch sagen, ist ein individueller Pragmatismus getreten. Wie sehr sich die Vorstellung individualisierter und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung bereits in den jugendlichen Habitus eingeschliffen hat, kommt am markantesten vielleicht in der folgenden Aussage eines Schülers – Thomas, 16 Jahre – zum Ausdruck: ”Ich muß mein Leben selber meistern.” Diese Aussage, die in gewisser Weise auch als Quintessenz unserer Forschungen angesehen werden kann, hatte für uns aber auch die Funktion eines Aufmerksamkeitsgenerators. Sie lenkte unseren Blick nochmals auf einen Wesenszug der heutigen Jugendgeneration: Selbst-Gestaltung. Aber wir wa­ren durch diese Aussage auch neugierig geworden und wollten genauer wissen, was die Jugendlichen denn im einzelnen darunter verstehen. Dazu baten wir eine größere Gruppe, einen kleinen Essay zu schreiben, der unter diesem Oberthema stand. Wir waren überwältigt von der Offenheit und Differenziertheit, mit der die Jugendlichen hier zu Werke gingen.[20] Aus mehr als 200 Essays, die im übrigen eine wahre Fundgrube für biographie- und identitätstheoretische Studien darstellen, ist abschließend der Essay einer 15jährigen (Esther) zitiert, der als Sinn- und Spiegelbild für das Selbstverständnis und die Zukunftssicht der heutigen jungen Generation angesehen werden kann:

“Im Moment sind mir ganz sicher meine Freunde wichtig. Ich denke, ohne Freunde ist das Leben ziemlich langweilig, und man ist allein. Meine Familie ist allerdings das Wichtigste, das ich besitze. In meiner Familie fühle ich mich “beschützt“ und nicht allein! Mir ist im Moment auch noch wichtig, daß ich die Schule abschließe, da ich denke, daß mein Abschluß meine Zukunft ziemlich stark beeinflussen wird.

Natürlich ist es auch wichtig, ob ich gesund bin. Ich bin froh darüber, daß ich nicht in einer großen Stadt wohne, sondern in einem kleineren Ort, denn da ist die Natur noch nicht so zerstört.

Ich denke öfters über meine Zukunft nach, was ich werden will, wie ich leben will usw. Ich wünsche mir für meine Zukunft, daß ich gesund bin und nicht alleine leben muß. Ich habe ziemlich viel mit anderen Menschen zu tun, in meiner Straße, in verschiedenen Jugendgruppen und im Sport, und deshalb kann ich mir nicht vorstellen, einmal ganz alleine zu leben. Am liebsten würde ich auf einem großen alten Bauernhof leben, wo ich meine eigene Tierarztpraxis aufbauen könnte. Ich würde gerne einen ganz lieben Mann haben und irgendwann auch ganz sicher Kinder.

Ich hoffe, daß in der Zukunft kein Unterschied mehr zwischen Menschen gemacht wird – ob sie schwarz oder weiß sind, Ausländer oder Einheimische –, sondern daß alle gleich behandelt werden. Außerdem hoffe ich, daß die Natur erhalten bleibt und daß die Umwelt gerettet wird und die Ozon-Schicht nicht noch mehr kaputtgeht durch Abgase und Umweltschäden. Ich wünsche mir auch in der Zukunft Freunde, mit denen ich über alles reden kann und die mich verstehen. Ich möchte auch später noch ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern haben und mit ihnen klarkommen.

Was ich in meiner Zukunft befürchte ist, daß alles eigentlich ganz anders wird, wie ich mir es vorstelle. Daß ich keinen Arbeitsplatz habe, krank bin, keine Freunde habe, falsche Entscheidungen treffe, was sich wahrscheinlich nicht immer vermeiden läßt, und die Umwelt zerstört wird.“

 


 

[1] Auch wir haben diese Frage untersucht, in dem wir die Bildungsabschlüsse der Jugendlichen mit denen ihrer Eltern (hier: des Vaters) in Beziehung setzten. Danach zeigt sich folgende Bildungsrelation: Aufstieg: 42%, Konstanz: 47%, Abstieg: 11%. Die hier zum Ausdruck kommende Erhöhnug des Bildungsniveaus der heutigen Jugend darf aber nicht mit Egalisierung gleichgesetzt werden, denn trotz wachsender Bildungsbeteiligung bleiben die vorhandenen Schichtdifferenzen bestehen, nur auf einem etwas höheren Bildungsniveau (Stichwort: Fahrstuhleffekt); vgl. hierzu auch Bernhard Schimpl-Neimanns, Soziale Herkunft und Bildungsbeteiligung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 52 (2000) 4, S. 636-669.

[2] Bei der Konstruktion des Index ‘Bildungsstatus’ wurde der höchste Schulabschluß bzw. der derzeit besuchte Schultyp wie folgt klassifiziert: niedrig (Sonderschule, Hauptschule), mittel (Realschule), hoch (Gymnasium, Fachhochschule, Universität).

[3] Ursula Henz/Ineke Maas, Chancengleichheit durch die Bildungsexpansion? in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47 (1995) 1, S. 627. Auch die Ergebnisse des gesamtdeutschen DJI-Jugendsurveys von 1997 weisen deutliche regionale Unterschiede bei den Bildungsabschlüssen aus, wobei hier aus Vergleichsgründen nur auf die Ergebnisse in den alten Bundesländern Bezug genommen wird: Hauptschule (Kleinstadt/Land: 27%; Mittelstadt: 19%; Großstadt: 17%), Mittlere Reife (Kleinstadt/Land: 41%; Mittelstadt: 31%; Großstadt: 27%), (Fach-)Abitur (Kleinstadt/Land: 32%; Mittelstadt: 50%; Großstadt: 56%); vgl. J. Achatz (Anm. 4) S. 46.

[4] Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer, Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst! (Erwerbs-)Probleme junger Leute heute und die anderen Welten von Jugendlichen, in: Robert Hettlage/Ludgera Vogt (Hrsg.), Identitäten in der modernen Welt, Wiesbaden 2000, S. 375.

[5] Claus J. Tully, Mobilität Jugendlicher am Lande und in der Stadt, in: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), U.MOVE. Jugend und Mobilität, Dortmund 2000, S. 18.

[6] Michael Jäckel/Peter Winterhoff-Spurk (Hrsg.), Mediale Klassengesellschaft?, München 1996. Angesichts dieser drohenden Spaltung der Gesellschaft entlang der ‘Internet-Linie’ sind weitere Bildungsanstrengungen notwendig. Eine vielversprechende Maßnahme – gerade für die bisher benachteiligte Landjugend – stellen mobile Formen außerschulischer Medienpädagogik dar. Sie sind eine wichtige Ergänzung vorhandener stationärer Angebote in Schulen und Jugendeinrichtungen bzw. können mit diesen – ganz im Sinne der Philosophie des Internet – auch vernetzt werden. Auf ein entsprechendes Modellprojekt sind wir in einem unserer Erhebungsgebiete (Landkreis Tier-Saarburg) aufmerksam geworden: “Mit dem neuen Kooperationsprojekt ‘webmobil’ soll Medienpädagogik überall im Landkreis möglich werden. Schnell, modern und flexibel will der zum Computerterminal umfunktionierte Transporter vorhandene Lücken im medienpädagogischen Angebot, besonders im ländlichen Raum, schließen” (Marc Steffen, Die große weite Welt auf vier Rädern, in: Trierischer Volksfreund vom 9. Oktober 2001, S. 12).

[7] Sonja Banze, “Scheitert gerade eine ganze Generation, Herr Beck?” Interview mit dem Soziologen Ulrich Beck, in: Welt am Sonntag vom 1. Juli 2001, S. 58.

[8] Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Public Styles among Western Publics, Princeton 1977.

[9] Yvonne Fritzsche, Moderne Orientierungsmuster: Inflation am ‘Wertehimmel’?, in: Deutsche Shell (Anm. 5) S. 115.

[10] Vgl. Y. Fritzsche (Anm. 20) S. 107.

[11] Dies ist auch der allgemeine Tenor der neueren jugend- und religionssoziologischen Studien, wenn auch über ihren Qualitätsstandard im Einzelfall bisweilen heftig gestritten wird; vgl. Heiner Barz, Postmoderne Religion, Opladen 1992; Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung an der Universität Hannover (Hrsg.), Jugend und Religion, Hannover 1995; Uwe Gerber/Reiner Jungnitsch, Originalton Jugend ‘98. Zur faktischen Religiosität Jugendlicher, in: Religionspädagogik an berufsbildenden Schulen, (1998) 4, S. 108-112; Carsten Wippermann, Religion, Identität und Lebensführung, Opladen 1998; Werner Helsper, Jugend und Religion, in: Uwe Sander/Ralf Vollbrecht (Anm. 5) S. 279-314.

[12] Allerdings ist diese degressive Entwicklung der Kirchenbindung kein jugendspezifisches Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches, wie neuere Untersuchungen belegen: “Die Zeitreihendaten zur Kirchlichkeit verweisen darauf, (...) daß diese rückläufigen Entwicklungen sich als Trend erweisen, der nicht nur generationell, sondern auch in verschiedenen Altersgruppen kontinuierlich seit den siebziger Jahren abläuft. So hat sich die Kirchgangshäufigkeit der westdeutschen Bevölkerung von einem Durchschnitt von ca. 18 Gottesdienstbesuchen im Jahr 1980 auf ungefähr 12 Besuche 1998 reduziert. Diese Reduktion wird von allen Altersgruppen gleichermaßen getragen. (...) Dieselbe Entwicklung findet sich, wenn man das Vertrauen in die Institution Kirche im Zeitverlauf untersucht. Das Vertrauen in die Kirche geht, trotz einiger kleinerer periodischer Schwankungen, ebenfalls seit geraumer Zeit zurück” (Detlef Pollack/Gert Pickel, Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Soziologie, 28 (1999) 6, S. 474).

[13] In unserer interdisziplinären Forschungsgruppe AG Jugend- und Medienkultur haben wir an unterschiedlichen Fragestellungen und Untersuchungspopulationen ein differenziertes qualitatives Forschungsdesign entwickelt und erprobt, das uns vielfach zu ‘Ethnologen im eigenen Land’ werden ließ. Soziologisch-ethnographische Forschung in diesem Sinn versucht offenzulegen, wie die Subjekte ihre Umwelt, ihre sozialen Beziehungen, Ereignisse und Erfahrungen interpretieren und damit diesen Sinn verleihen. Das bedeutet, sie muß möglichst nahe an die alltäglichen Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster herankommen, um aus der Binnenperspektive eine andere Welt in unserer Welt transparent zu machen. Zum partizipativen und diskursiven Aufspüren unvertrauter Lebens- und Sinnwelten vgl. Andreas Hepp/Waldemar Vogelgesang, ‘Gruppendiskussion’ als Interpretationsverfahren. Forschungsgruppen als ‘diskutierende Interpretationsgemeinschaften’, Trier 1999 (Typoskript); Jörgen Schulze-Krüdener/Waldemar Vogelgesang, Ethnographische Forschung: Daten und Deutungen aus erster Hand, in: Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, (2002) 5 (im Erscheinen).

[14] Artuur Fischer, Jugend und Politik, in: Deutsche Shell (Anm. 5) S. 262. Vgl. hierzu an Forschungsbefunden aus der jüngeren Vergangenheit auch Helga Theunert/Bernd Schorb, Nicht desinteressiert, aber eigene Interessen, in: Medien und Erziehung, 44 (2000) 4, S. 219-228; Martina Gille/Winfried Krüger (Hrsg.), Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29jährigen im vereinigten Dutschland, Opladen 2000; Sibylle Reinhardt/Frank Tillmann, Politische Orientierungen Jugendlicher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/2001, S. 3-13.

[15] Vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg (Hrsg), Generationenkonflikt und Generationenbündnis in der Bürgergesellschaft, Stuttgart 1999, S. 55f.

[16] Kurt Möller, Politische Orientierungen von Jugendlichen, in: U. Sander/R. Vollbrecht (Anm. 5) S. 272.

[17] Roland Eckert, Mehr Autorität als Antwort auf Gewalt?, in: Das Parlament vom 16. Dezember 1994, S. 16. Ob Jugendliche zum Vorreiter für ein neues, ganzheitliches Politikverständnis werden, bleibt abzuwarten. Erste Anzeichen für eine „Politik der Lebensführung“ sind aber unübersehbar. Vgl. Klaus Hurrelmann, Warum die junge Generation stärker partizipieren muss, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2001, S. 3-7; Waldemar Vogelgesang, Jugendliche sind nicht unpolitisch, sondern anders politisch, Trier 2001 (Typoskript).

[18] Helga Huber, Mädchen und junge Frauen in der Dorföffentlichkeit, in: Lothar Böhnisch u.a. (Hrsg.), Ländliche Lebenswelten, München 1991, S. 245.

[19] Ulrich Beck, Das Zeitalter des ”eigenen Lebens”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001, S. 6.

[20] Zu großem Dank verpflichtet sind wir den beiden Pädagogen Heinfried Carduck und Bernadette Faber, die für uns die Essay-Befragung organisiert haben. Quer durch alle Altersstufen ist es ihnen gelungen, Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme zu motivieren. Ihrem pädagogischen Geschick und Fingerspitzengefühl ist es zu verdanken, daß diese Selbstzeugnisse über sich verfaßt haben, deren Originalität und Authentizität uns dazu veranlaßt hat, sie im Rahmen eines Anschlußprojekts (Jugendliche Selbstbeschreibungen) noch eingehender aufzuarbeiten und auszuwerten.

 

 

 

 

 

 

 

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